06.05.2012
Predigt von Pfarrer Dr. Frank Hiddemann am 4. Mai 2012

im Gottesdienst zur Luther-Ankunft in der Kapelle der Wartburg

Gnade und Friede sei mit euch
von dem der da war und der ist und der kommt.
Amen.

Liebe Gemeinde,

Luther war ein Übersetzer.
Ich sage das nicht nur, weil ich hier auf der Wartburg bin.
Und ich meine mit "Übersetzer" auch nicht nur,
dass er Texte aus der einen in die andere Sprache gebracht hat.
Luther war ein Übersetzer.
Das war seine Existenz.
Und auch seine Passion.
Es ging in seinem Leben genau darum
und ich möchte sagen: nur darum,
alles andere war Nebensache.
Es ging in seinem Leben darum,
aus Altem Neues zu machen,
aus alten Texten,
aus alten Lebenstexturen,
aus alten Glaubenserfahrungen,
neue zu machen,
aktuelle zu machen,
heutige zu machen,
solche in denen die alte Kraft wieder steckt,
die alte Kraft, Gott präsent zu machen,
in seinem eigenen Fühlen und Denken,
und deswegen auch unter den Menschen sein Zeit
und deswegen eben auch: unter uns.
Luther war ein Übersetzer.

Die Reformation war eine Übersetzung.
Sie war eine überaus genaue Übersetzung
der Glaubenserfahrung des Paulus
aus der Antike ins ausgehende Mittelalter
oder besser gesagt in die beginnende Neuzeit.
Denn mit dieser Übersetzung begann eine neue Zeit,
der Same für die Moderne war damit gelegt..
Folgen wir Luther auf diesem Weg,
setzen wir mit ihm über,
sehen wir, was er für Wege zurücklegt,
denn es sind auch unsere Wege,
oft hat er sie gespurt,
ohne dass wir davon wissen.
1.
Einmal ging Luther über einem Stück Römerbrief der Himmel auf, wie er schrieb.
Er schritt durch eine Pforte, die sich ihm im Text geöffnet hatte.
Er war nicht im Begriff, diesen Text zu übersetzen, das tat er später,
er suchte nach einem Ausweg für seine Angst,
er hatte ein existentielles Problem,
das er viel später, ein Jahr vor seinem Tod, rückblickend, so beschrieb:
Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben,
im Gegenteil, ich hasste ihn sogar.
Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte,
fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder,
und mein Gewissen quälte mich sehr.
Er konnte sich aus dieser Gewissensqual retten
und er wurde sogar von Freude erfüllt,
als er verstand, dass der gerechte Gott kein strafender Gott ist,
sondern Menschen, die sich ihm vertrauensvoll übergeben, gerecht macht.
So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird
ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Röm 3, 28)
Wir lesen heute diese Stelle alle mit Luthers Brille.
Sie bezeugt für uns die Gerechtsprechung des Sünders,
Gottes vorauseilende Freundlichkeit und Liebe,
die sich letztlich nicht darum kümmert,
wie viel wir im Leben erreicht haben.
So hat es uns Luther gelehrt zu lesen.
Und doch stand er lange ratlos vor Stellen und Worten wie diesen,
bis sich ihm mit plötzlicher Klarheit ein neuer Sinn erschloss.
Ein Sinn, der dem Paulus vertraut gewesen war,
auf den er hingeschrieben hatte,
der aber in den vergehenden Zeiten verschwunden war.
Das heißt "Übersetzen" in Luthers Sinn:
einen Text abhören und abklopfen, drehen und wenden,
bis er einen Sinn freigibt, der uns aus den Ängsten reißt und Orientierung gibt.
Noch heute ist auch der lutherische Gottesdienst vom Hören auf Texte geprägt.
Weil dies eben die Urform der Kontaktaufnahme Gottes mit uns ist,
wie sie Luther erfahren hat.
Gott vermag durch die Schrift in unser Leben zu treten.
Und so übersetzt Luther.
Philologen haben ihm bei seiner Bibelübersetzung viele Fehler nachgewiesen
und ihm gleichzeitig neidlos zugestanden,
er habe die deutsche Sprache mit dieser Übersetzung allererst geschaffen.

2.
Werfen wir einen Blick auf diese Übersetzungen.
Luther hat den Psalm 46 mindestens zweimal übersetzt,
einmal als Teil seiner Bibel, einmal als Nachdichtung,
als sogenanntes Psalmlied.
Diese Lieder gaben und geben die Möglichkeit,
das liturgische Psalmrezitieren oder Psalmodieren
durch ein Gemeindelied zu ersetzen.
Der Psalm 46 hat eine ganz eigenartige Mischung von Heiterkeit
und der Schilderung von Grund stürzender Gefahr,
einer Bedrohung, die tiefer geht, als jede oberflächliche Furcht vor etwas.
Diese Grunderfahrung kennen wir,
kennt auch Luther aus der Frömmigkeit.
Gerade wenn eine Situation sich zuschnürt
und auf die völlige Ausweglosigkeit zu driftet,
kann einen eine gelassene Heiterkeit überkommen,
die scheinbar gar nicht mehr der Situation angemessen ist.
Schwer zu sagen, ob diese Getrostheit
uns aus der Lektüre der Psalmen erwächst
oder ob es einfach eine Glaubenserfahrung ist,
die wir auch in den Psalmen wiederfinden,
weil sie eben eine Erfahrung unseres Gottes ist.
Luther zeichnet dieser Erfahrung ein Portrait,
und er tut es hinreißend.
Diese Worte findet er für Verse des 46. Psalms:
Darum fürchten wir uns nicht,
wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken,
wenngleich das Meer wütete und wallte
und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.
Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein,
da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.
Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben;
Gott hilft ihr früh am Morgen.
Wunderbar das lautmalerische Auf- und Absteigen
der wogenden Meere und der wankenden Berge,
das selbst die revidierte Lutherfassung von 1984 noch verständig nachspielt
und dann die fein lustige Stadt in ihrer Unbekümmertheit
auch sprachlich ruhig und sicher steht.
Und wenn er dann den Psalm 46 auch zu einem Lied macht,
überträgt er nicht Zeile für Zeile in Reime und metrisch gefügte Sätze,
sondern orientiert sich vor allem an diesem Frömmigkeitsgeist des Psalms.
Das Toben und Wüten der Elemente,
das Aufbranden des Krieges,
das diesem Erzittern der Berge gleicht.
Und dann das Gerettetsein in Gott,
wie mühelos in all dem Toben.
Denn Gott ist eine Burg, in der sein Volk sicher ist.
„Ein feste Burg ist unser Gott“.
Das Hauptmotiv übernimmt Luther aus dem Psalm,
spricht dann aber von seiner eigenen Zeit,
dem Toben der reformatorischen Wirren,
Jesus Christus als dem Herrn der Heere und dem einen Wörtlein,
das den Teufel fällen kann, sogar „Wenn die Welt voll Teufel wär“.
Wir haben es gesungen, wir erinnern uns:
Der Fürst dieser Welt,
wie sau’r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen.
Und a propos “wie sau’r er sich stellt“:
Luthers Geistliche Lieder gelten oft als rau gefügt.
Oft müsse die Melodie geschickt über die Holprigkeiten des Versmaßes hinweg helfen.
Das wird ihnen immer wieder zu Recht nachgesagt.
Zum Teil liegt aber auch der Charme seiner Lieder an dieser fehlenden letzten Raffinesse.
Sie wirken so, als seien sie schnell für den Gebrauch zusammen montiert worden
und vor allem, als sei der Überschwang der richtigen Gedanken
manchmal nicht vollständig ins Wortmaß gebracht.
Das gibt ihnen eine Frische und eine Direktheit,
die wohl für die Langlebigkeit der meisten Lutherlieder mit verantwortlich ist.
Und nicht zuletzt ist es eine rhetorische Figur.
Ein Lied, das den Anspruch erhebt,
ein direkter Ausdruck einer Frömmigkeitserfahrung zu sein,
muss wie aus dem Herzen gequollen wirken.
Und vergessen wir nicht, er konnte auch anders,
Als er das frühmittelalterliche Antiphon
„Media in vita morte“ ins Deutsche übersetzte,
gelang ihm das so gut, dass „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“
inzwischen sogar im katholischen Gesangbuch, dem „Gotteslob“ steht.
...
Das Lied "Ein feste Burg ist unser Gott"
wiederholt im Grunde Luthers zentrale Glaubenserfahrung:
Mitten aus dem größten Schlamassel holt Gott selbst uns heraus.
Deswegen ist das Lied zu Recht eine Art Hymne der Reformation geworden,
besonders in der Zeit, als sie auch immer wieder neu erkämpft werden musste.
Das Lied wird sogar in die Zeit datiert, die wir heute bedenken.
Es soll kurz vor dem Reichstag in Worms
in der Nacht vom 15. auf den 16. April 1521
im Gasthaus "Zur Kanne" in Oppenheim entstanden sein.
Obwohl die genaue Entstehungssituation des Liedes nicht historisch belegt ist,
müssen wir diese Hypothese schon deswegen ablehnen,
weil Luther ja dann beim Dichten des Liedes
die feste Reichsburg über Oppenheim vor Augen gehabt hätte.
Und das ist ein Detail, mit dem wir uns hier nur sehr schwer abfinden könnten.

3.
"Ein feste Burg" ist das Lied der gewissen Glaubenserfahrung.
Diese gab Luther die Kraft, in großer innerer Unbekümmertheit
die gefahrvollsten Auseinandersetzungen durchzustehen.
Aber wir wissen auch, dass die Gewissensqual,
aus der ihn das Stück Römerbrief erlöste,
in seinem Leben immer wieder auftauchte.
Die Situation hieß damals „Anfechtung“.
Wohl hatte Luther - durch Schmerzen hindurch -
einen reformatorischen Durchbruch in die evangelische Freiheit.
Aber diesen Durchbruch musste er Zeit seines Lebens wiederholen.
Immer wieder kam die Anfechtung zurück.
Er kannte die Lösung.
Es war seine eigene, selbst erfahrene Lösung,
das Gerecht-gesprochen-werden aus Gnade.
Aber er verlor sie beständig wieder,
und er musste sie immer wieder neu finden;
er musste sich immer wieder neu davon überzeugen,
musste diese Entdeckung
wiederholt für sich wahr machen.
Das ist eben die Rückseite der lutherischen Glaubensgewissheit.
Sie verdankt sich nicht einem sicheren Wissen,
einer unerschütterlichen Überzeugung
über die Wahrheit der Lehre der Kirche
und der Heiligkeit ihrer Institution,
sondern eben einer Erfahrung,
und zwar einer Erfahrung,
auf die man nicht jeder Zeit sicher zurückgreifen kann,
sondern eben einer Erfahrung der Wende in der Not.
Das stellt Luther neben uns Menschen der Moderne.
Auch wir müssen unsere Lebens- und Glaubensgewissheit
immer neu finden und erfahren.
Feste Gewissheit gibt es in der Moderne nicht,
nur die Erfahrung einer festen Gewissheit,
die immer wieder wiederholt werden muss.
Und diese Erfahrung entsteht in einer Krise.

In der Moderne beschreibt das geistliche Lied,
das geistliche Gedicht nicht mehr so sehr die frohe Überwindung der Krise,
als vielmehr die paradoxe und bedrängende Erfahrung der Krise selbst.
Diese dunkle Erfahrung zu teilen
bringt offenbar mehr Trost, als das Zeugnis.
Aber wenn sie sich während dieser Zeilen
eine Anfechtung Martin Luthers vorstellen,
sind sie sicher näher an der Sache selbst,
als wenn sie an den Wurf eines Tintenfasses denken.
Else Lasker Schüler ruft in ihrem Gedicht „Gott hör …“ Gott an,
und sie tut es in der Situation seines Schweigens:
Gott hör ...

Um meine Augen zieht die Nacht sich
Wie ein Ring zusammen.
Mein Puls verwandelte das Blut in Flammen
Und doch war alles grau und kalt für mich.

O Gott, und bei lebendigem Tage,
Träum ich vom Tod.
Im Wasser trink ich ihn und würge ihn im Brot.
Für meine Traurigkeit gibt es kein Maß auf deiner Waage.

Gott hör ... In deiner blauen Lieblingsfarbe
Sang ich das Lied von deines Himmels Dach -
Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag.
Mein Herz schämt sich vor dir fast seiner tauben Narbe.

Wo ende ich? - O Gott!! Denn in die Sterne,
Auch in den Mond sah ich, in alle deiner Früchte Tal.
Der rote Wein wird schon in seiner Beere schal ...
Und überall - die Bitternis - in jedem Kerne.

Dieses Gedicht beschreibt die Nacht der Seele,
wie sie sie alle Mystiker kennen,
wie sie auch Martin Luther kannte,
wie wir sie kennen,
wenn wir selbst mit Radikalität den Weg der lutherischen Frömmigkeit gegangen sind.
mit paradoxen Bildern wird hier die Gottesferne beschrieben.
Das Blut flammt und alles bleibt zugleich grau und kalt.
Und mit paradoxen Bildern
beschreibt Luther auch die Überwindung solcher Nachterfahrungen.
Zugleich Sünder seien wir und Gerechte,
zugleich in Nöten und ganz und gar auch ihnen enthoben,
am Rand der feinen Brünnlein in der Stadt Gottes sitzend.
Wie in einer Burg, was ja für uns gewisslich zutrifft.
Immer wieder ist in den Liedern Luthers
die Dunkelheit noch zu spüren, aus der sie hervorgegangen sind
und dann wieder das Sich-Wundern über die plötzliche und unerwartete Lösung
dieses Nacht-Rings, der sich um die Augen zusammen gezogen hatte.
Und immer wieder das Staunen über die Erlösung,
darüber, wie wunderlich sie geschah.
In seinem Lied "Christ lag in Todesbanden"
wird das beinahe tänzerisch ausgedrückt:
Es war ein wunderlicher Krieg,
da Tod und Leben rungen,
das Leben behielt den Sieg,
es hat den Tod verschlungen.
Die Schrift hat verkündet das,
wie ein Tod den andern fraß,
ein Spott aus dem Tod ist worden.
So sei es! Amen.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als alle unsere Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne
in Christus Jesus.
Amen.

Pfarrer Dr. Frank Hiddemann ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM).