24.11.2020
100 Jahre Thüringer Landeskirche - Festgottesdienst 8.11.2020

Altbischof Christoph Kähler, Ministerpräsident Bodo Ramelow, Landrat Reinhard Krebs 

100 Jahre Thüringer Kirche

Altbischof Christoph Kähler Im Gottesdienst aus Anlass des Jubiläums am 8. November 2020
in der Georgenkirche Eisenach

Wir erinnern uns heute an die Geschichte der evangelischen Kirche in Thüringen, die 89 Jahre in diesem Land ihren Dienst getan hat. In diesem Gottesdienst und bei anderen Gelegenheiten dürfen wir Gott danken für alles, was in den Gemeinden, den Regionen und in der Landeskirche gelungen ist. Wir werden schwere Schuld nicht verschweigen, die Vertreter unserer Kirche auf sich geladen haben. Wir beklagen die Verfolgung, Unterdrückung und Benachteiligung, die viele Glieder unserer Kirche in zwei Diktaturen erfahren haben. Wir wissen, dass die umstrittene Geschichte dieser Kirche weiter erforscht und bedacht werden muss. Doch wir werden das, was gelungen ist und uns freut, wie das, was falsch und böse war und bis heute schmerzt, dem endgültigen – wie wir hoffen – gnädigen Urteil Gottes anvertrauen. Alles das in dem Wissen, dass wir selbst als Erben dieser Geschichte täglich um Gottes Vergebung für unsere Gedanken, Worte und Werke bitten müssen.

Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg überlegten neun kleine Landeskirchen in Thüringen, ob sie zusammengehen sollten. Es waren dann sieben, später acht selbständige Kirchen, die sich zu einer „Thüringer evangelischen Kirche“ vor genau hundert Jahren zusammenschlossen. Die entscheidenden Beschlüsse wurden mit einer unglaublichen Schnelligkeit innerhalb eines Jahres bis zum Dezember 1919 vorbereitet und gefasst, obwohl die führenden Vertreter sich zuvor kaum gekannt hatten. Aber Not lehrt beten –und gemeinsam zu handeln. Denn revolutionäre Politiker bekämpften damals in Thüringen die Kirchen offen und verdeckt.

Der Anfang der Thüringer Landeskirche ist bis heute alles andere als selbstverständlich. Aus sieben Landeskirchen eine Landeskirche zu bilden, ist eine ungeheure Aufgabe. In den zehn Jahren von 1999 bis 2008 wurde über den Weg einer Kooperation und Föderation aus nur zwei Landeskirchen die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland gebildet: Daher können wir uns heute vorstellen, welches Engagement, welche Entschlossenheit und Zielstrebigkeit vor über 100 Jahren aufgebracht wurden, um in viel kürzerer Zeit mit viel mehr Partnern zu einer neuen Einheit zu gelangen. Wir stellen im Rückblick vor allem eins dankbar fest: Die evangelisch-synodalen Strukturen waren und sind leistungsfähig – in der Zusammenarbeit von kirchlich Aktiven im Ehrenamt, von Hauptamtlichen und von engagierten Vertretern der Theologischen Fakultät in Jena. In den 20er Jahren entwickelte sich die evangelische Kirche in Thüringen bewusst zur Volkskirche. Sie wollte keine Staatskirche mehr sein, sondern eine von den Kirchgemeinden, dem Kirchenvolk, verantwortete Kirche werden. Die unterschiedlichen Prägungen der verschiedenen Regionen blieben in aller evangelischen Freiheit erhalten – nur lutherisch wollte man bleiben. Das war das einigende Band.

Allerdings war eine solche Freiheit auch – Gott sei es geklagt – ein Einfallstor für die Zerstörung dieser Kirche durch die breite Übernahme nationalsozialistischer Ideen, Strukturen und Verhaltensweisen: Wenn eine Synode sich selbst aufgibt und alle Macht dem Bischof und dem hauptamtlichen Landeskirchenrat überträgt, Wahlen nicht mehr stattfinden, wenn die freie Rede und Gegenrede, die freie Verkündigung  abgeschafft werden, ja, wenn Bibel und Bekenntnis nicht mehr gelten sollen, so wie es 1933 in Thüringen geschah, zerstört das die Fundamente der Kirche. Wir sind dankbar für Christen in den Gemeinden, für Mitarbeiter und für Zusammenschlüsse, die dennoch ihren Glauben, ihre Menschlichkeit und ihren Anstand bewahrten. Wir nennen als Beispiel dafür die Lutherische Bekenntnisgemeinschaft. Nicht wenige ihrer Mitglieder wurden gemaßregelt, aus Thüringen verdrängt und verfolgt. Die Entrechtung und Ermordung von Pfarrer Werner Sylten ist ein besonders schrecklicher Tiefpunkt dieser Geschichte.

Vor 75 Jahren konnte sich diese Kirche auf ihre Grundlagen besinnen und orientierte sich neu an Bibel und Bekenntnis. Davon zeugte auch ihr neuer Name Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Thüringen. Es hat in dieser Zeit redliche Versuche gegeben, die Volkskirche zu bewahren. Kompromisse und Zugeständnisse, die dafür gemacht wurden, werden heute oft kritisch beurteilt. Das trifft vor allem auf manche Alleingänge der Thüringer Kirchenleitung zu, die ohne die anderen Kirchen in der DDR geschahen. Wir sind heute dankbar, dass dieser Weg vor allem durch synodale Entscheidungen zunehmend verlassen wurde. Synodalpräsidentin Christina Schultheiß und Landesbischof Werner Leich haben dafür nach und mit anderen durch Courage und Klarheit gewirkt.

Nach der friedlichen Revolution und wegen der verheerenden Folgen der DDR-Planwirtschaft hat die Thüringer Synode erhebliche Mühe aufwenden müssen, um berechtigte Wünsche und finanzielle Möglichkeiten zusammenzuhalten. Das war ohne tiefe Einschnitte und für manche verletzende Eingriffe nicht machbar. Weiter hat sich Synode in langem Ringen und sorgfältigen Beratungen dafür entschieden, die Kräfte der Thüringer Kirche mit denen der Kirchenprovinz Sachsen zu vereinen, um Arbeitsmöglichkeiten in den und für die Gemeinden vor Ort zu erhalten.

Die Grundlage aller kirchlichen Arbeit formuliert unsere Verfassung so: „Jesus Christus schafft seine Kirche durch sein lebendiges Wort als Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern.“ Daran wollen wir glauben, darauf wollen wir vertrauen, darauf wollen wir hoffen.

Steffen Herbst                                                                                                          Christoph Kähler

 

 

Schriftliches Grußwort

des Thüringer Ministerpräsidenten

Bodo Ramelow

anlässlich 100 Jahre Evangelische Kirche in Thüringen

Sehr geehrte Damen und Herren,

in normalen Zeiten hätten wir in großer Runde den 100. Jahrestag der Gründung der Evangelischen Kirche in Thüringen begangen. Wir hätten fröhlich Gottesdienst gefeiert, gesungen und wären einander nahe gewesen. In Zeiten der Corona-Pandemie ist das schwierig. Die Pandemie stellt uns vor eine große Bewährungsprobe und fordert uns alle. Sie erleben es in der Seelsorge, in Gottesdiensten und auf der Synode der EKD, die diesmal gänzlich digital veranstaltet wurde.

Deshalb sende ich der Evangelischen Kirche in Thüringen auf diesem Wege die herzlichsten Glück- und Segenswünsche zum 100. Jahrestag ihrer Gründung! Ich tue dies in doppelter Hinsicht gerne: Zum einen als Thüringer Ministerpräsident, der für die Beziehungen des Freistaats zu der auf seinem Territorium heute wirkenden evangelischen Kirche zuständig ist, und zum anderen als evangelischer Christ.

Brüche und Wandlungen sind Teil der hundertjährigen kirchlichen Geschichte, die eng mit der Geschichte Thüringens verbunden ist. Für beide – Kirche und Land – markiert das Jahr 1920 die Zeit der Auf- und Umbrüche: Ausgehend von der Novemberrevolution 1918 dankten die Fürstenhäuser ab und das Volk wurde zum Souverän. Am 1. Mai 1920 vereinigten sich sieben Kleinstaaten in der Mitte Deutschlands und bildeten fortan das Land Thüringen. Mit einem Augenzwinkern spreche ich oft von 100 Jahren „Vereinigte Staaten von Thüringen“.

Parallel zur Bildung Thüringens haben sich die kleinen Landeskirchen der ehemaligen Herzogs- und Fürstentümer vereinigt – die „Thüringer Evangelische Kirche“ ist entstanden. Eisenach wurde Sitz dieser Kirche. Die neu gegründete Kirche war eine moderne Kirche. Mit der Urwahl „von unten“ und in ihrer neuen Gestalt bildete sie die in der Gesellschaft wachsenden demokratischen Prozesse ab. Die Mitglieder von Landeskirchentag und Gemeindekirchenrat wurden direkt vor Ort gewählt.

Wenn wir in diesen aufstrebenden Anfangsjahren über Positives berichten können, dürfen wir den dunklen Teil der Jahre nach 1930 bis 1945 nicht aussparen. Das, was damals in den politischen Wahlen sichtbar wurde, bildete sich auch in der Kirche ab. Täter und Mitläufer, Opfer und Gegner des Nationalsozialismus sind Teil der bewegten Geschichte der Thüringer Kirche. Die Gründung des sogenannten Entjudungsinstituts, das Auslöschen jeglicher jüdischer Bezüge im Neuen Testament und im Gesangsbuch, NS-Dekor auf Gemeinde- Glocken – dieser Teil der eigenen Geschichte ist in der Evangelischen Kirche heute sehr bewusst.

In den Jahren nach dem Krieg, in den Zeiten bitterer Not und auf der Suche nach Neuorientierung bot die Evangelische Kirche Hoffnung in einer schweren Zeit.

Die Zeit in den 40 Jahren DDR war schließlich geprägt vom „Thüringer Weg“ zwischen Kompromiss und Kooperation. Die Kirche rang um ihre Stellung im sozialistischen Staat und bot Raum für eine freie Geisteshaltung, die sich aus dem Evangelium speist. Der demokratische Umbruch im Herbst 1989 wurde zum Aufbruch: Endlich konnten sich Kirche und Glaube in Freiheit entfalten. Es war das kirchliche Umfeld selbst, das mit Montagsgebeten, Umwelt- und Oppositionsgruppen den Weg dafür bereitet hat. „Vertraut den neuen Wegen“, heißt es so schön in dem Lied, das der Jenaer Theologe Klaus Peter Hertzsch damals dichtete. Aber der erneuerte religiöse Aufbruch war auch durch Kirchenaustritte und notwendige Vergangenheitsaufarbeitung überschattet.

Seit der Gründung des Freistaats Thüringen durch das Länderneugliederungsgesetz vor 30 Jahren stehen Staat und Kirche in einem freien und unabhängigen Verhältnis. Dieses ist auf Trennung und Kooperation ausgelegt. Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Bestimmungen, die geradezu die Kooperation von Staat und Kirche erfordern: vom Religionsunterricht in den Schulen, über die Seelsorge in den Haftanstalten bis zur Kirchensteuer.

Wenn ich an die drängenden Fragen unserer Zeit denke, an die globalen, politischen, sozialen und technologischen Umbrüche, sind wir noch vielmehr auf den Beitrag der Kirche angewiesen. Denn die Kirche und der christliche Glaube leisten eine grundlegende Orientierung in universellen Wertefragen. Von hier gehen wichtige Impulse an Politik und Gesellschaft aus. Mit ihren Ehrenamtlichen sorgt die Kirche dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird und dass christliche Werte in die Welt getragen werden.

Infolge des Beitritts zum Grundgesetz war es erforderlich, das rechtliche Verhältnis des Freistaats zur Evangelischen Kirche in Thüringen in einer freiheitlichen Grundordnung auf eine umfassende neue Grundlage zu stellen und dauerhaft zu gestalten Der 1994 zwischen dem Freistaat Thüringen und den Evangelischen Kirchen in Thüringen geschlossene Staatsvertrag hat sich seitdem  bewährt.

Auch bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts arbeiten Freistaat und Kirche eng im offenen Dialog und in Verantwortung gegenüber den Opfern und Betroffenen zusammen. Ausdrücklich danke ich für das gute, vertrauensvolle und konstruktive Miteinander. Die Aufarbeitung ihrer eigenen landeskirchlichen Geschichte in beiden deutschen Diktaturen ist der Kirche wichtig, wohlgleich hier noch Forschungsbedarf besteht.

In der Thüringer Erinnerungskultur hat das Gedenken an die dunkelste Zeit in unserer Geschichte einen festen Platz, so wie wir zeitlebens die Aufgabe haben, diesen Teil unserer Verantwortung nicht aus dem Blick zu verlieren. Dass wir in Thüringen heute das Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben“ begehen, ist der Initiative der beiden großen christlichen Kirchen und der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen zu verdanken. Die Kirchen nehmen das Themenjahr zum Anlass, um der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen eine neue Tora-Rolle zu schenken. Ein Geschenk mit großer Symbolkraft, das den Wunsch für eine gute Zukunft im Namen trägt: „Tora ist Leben“.

Ich danke der Evangelischen Kirche für ihr Engagement in diesem Themenjahr. Es ist eine große Bereicherung!

Indem sich die einstigen Landeskirchen 2009 entschieden, in dem Zusammenschluss der EKM aufzugehen, sind sie aktiv in einen gesellschaftlichen Prozess eingetreten, der in den kommenden Jahrzehnten weitreichende Veränderungen bringen wird. Ich wünsche der Evangelischen Kirche in Thüringen dafür viel Kraft und eine gute Zukunft!

Alles Gute zu 100 Jahren „vereinigte“ Evangelische Kirche in Thüringen!

Ihr

Bodo Ramelow

Ministerpräsident des Freistaats Thüringen

 

 

Grußwort des Landrates des Wartburgkreises  Reinhard Krebs

Sehr geehrter Herr Landesbischof Kramer, sehr geehrter Herr Vizepräses Herbst, sehr geehrte Damen und Herren,

für den Wartburgkreis darf ich als Landrat beim heutigen Festgottesdienst der Evangelischen Kirche zum 100. Geburtstag in Thüringen gratulieren, wohlwissend, dass ich selbst nur für einen kleineren Teil des Gesamtgebietes sprechen kann.

Mit dem Rückblick auf das Jahrhundert der Evangelischen Kirche in Thüringen wird mit Recht auf die Verfehlungen in den beiden Diktaturen und Unrechtsstaaten des 20. Jahrhunderts hingewiesen. Ich möchte dennoch bewusst zum heutigen Anlass auch auf das beispielgebende Wirken der lutherischen Bekenntnisgemeinschaft im Widerstand gegen das Naziregime und auf die Öffnung der Kirchen im Herbst 1989 hinweisen. Insbesondere für letzteres bin ich aus eigenem Erleben sehr dankbar. Die Evangelische Kirche in Thüringen ist für mich zuallererst Kirche im ländlichen Raum und erfüllt in meinen Augen wichtige gesellschaftliche Funktionen für den Zusammenhalt und die Sorge um den Nächsten. Mein dringender Wunsch ist, dass dieses Grundprinzip der Subsidiarität uns trotz des demografischen Wandels in den Dörfern und Städten erhalten bleibt. Zahlreiche Ehrenamtliche in den Gemeindekirchenräten übernehmen Verantwortung vor Ort, häufig sind sie auch gleichzeitig Mandatsträger in den politischen Gemeinden. Sie waren und sind Rückgrat unserer Gesellschaft. Ihnen gebühren mein Dank und die Hoffnung, auch in der Zukunft auf sie zählen zu können.

Gleichzeitig waren in all den Jahren die evangelischen Kirchgemeinden Träger der Kultur in den Dörfern, im gesamten ländlichen Raum. Sie sollen mich auch künftig an ihrer Seite wissen, wenn es darum geht, die Vielzahl unserer Kirchgebäude mit ihrem reichen Inventar und den Orgeln, aber auch der Kirchenmusik in den Chören zu erhalten. Ich bin mir sicher, dass trotz großer Einschnitte und Veränderungen, auch unter zunehmenden Diasporaverhältnissen, die Evangelische Kirche in Thüringen eine Zukunft hat – das vor allem auch in ökumenischer Verbundenheit mit allen Christen und in Wertschätzung für unsere jüdischen Glaubensgemeinschaften. Das Jubiläum „100 Jahre Freistaat Thüringen“ mit seinen Landkreisen, Städten und Gemeinden, das wir in diesem Jahr auch feiern, wäre ohne 100 Jahre Evangelische Kirche in Thüringen nicht denkbar.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen für die Zukunft Gottes Segen!

Ihr Landrat Reinhard Krebs