02.01.2021
Predigt zum Altjahresabend 2020

Georgenkirche Eisenach-Superintendent Ralf-Peter Fuchs

DIE ISRAELITEN ZOGEN AUS VON SUKKOT UND LAGERTEN SICH IN ETAM AM RANDE DER WÜSTE. UND DER HERR ZOG VOR IHNEN HER, AM TAGE IN EINER WOLKENSÄULE, UM SIE DEN RECHTEN WEG ZU FÜHREN, UND BEI NACHT IN EINER FEUERSÄULE, UM IHNEN ZU LEUCHTEN, DAMIT SIE TAG UND NACHT WANDERN KONNTEN: NIEMALS WICH DIE WOLKENSÄULE VON DEM VOLK BEI TAGE NOCH DIE FEUERSÄULE BEI NACHT- 2. Buch Mose 13 ( 20-22)

Liebe Schwestern und Brüder

Irgendwo zwischen Sukkot und Etam lagerte sich das Volk Israel. Verschnaufpause für das Gottesvolk. Einen Augenblick der Rast auf der großen Wanderung. Ein Innehalten zwischen den Wegen, die sie gingen, und den Wegen, die sie noch gehen werden. Irgendwo zwischen Sukkot und Etam lagerten sie sich und saßen beieinander, so wie wir jetzt in unserer Kirche. Auch wir haben jetzt Rast eingelegt: Rastplatz St. Georgen. Verschnaufpause auf unserer Wanderung durch die Zeiten. Ein Innehalten zwischen den Wegen, die wir gingen, und den Wegen, die wir noch gehen werden.

Und wir schauen zurück: Was für ein Jahr, das wir da durchstolpert sind.Ich kenne persönlich kein Jahr, das mir die Verletzlichkeit alles Irdischen so vor Augen gebracht hat, wie 2020.

23. Januar – ein Schulbus verunglückt bei Berka vor dem Hainich. Eine Schockwelle aus Erschrecken und Fassungslosigkeit breitet sich aus. Zwei Kinder sind tot und in unzähligen Häusern wird geweint.

Dann: 5. Februar. Ein relativ unbekannter Politiker einer5% - Partei wird zum neuen Ministerpräsidenten kalkuliert. Und man begreift: Auch Demokratie ist mißbrauchbar,  also: verletzlich, verwundbar.

Und dann: der März: Irgendwo an einem bis dahin wenig bekannten Ort hatte wohl eine Fledermaus einen Virus übertragen. Und plötzlich wird fast die ganze Welt angehalten. Vollbremsung überall. Alles auf Notbetrieb. Werkhallen menschenleer. Geschlossene Türen – von Kneipe bis Konzertsaal. Beethoven bekommt sein Jubiläum nicht. Pflegeheime werden notgedrungen zu Festungen. Soziale Kontakte auf Einsiedlerniveau. Und Ostern: Vom Eise befreit warn Strom und Bäche. Aber aus der Städte hohlen, finstern Tor dringt erstmals kein buntes Gewimmel hervor. Nur ein paar Maskierte laufen durch die Straßen.

Und man steht im schönsten Frühling daneben und ist verblüfft. Der Virus ist ja nicht

die erste große Gefährdung. Hunger, Kriege, Umweltzerstörung sind durchaus vergleichbare Gefahren – auch zahlenmäßig. Aber nichts davon hat je eine vergleichbare Anstrengung auf den Weg gebracht. Vermutlich hat der Virus noch keine Lobby, die einen Vorteil daraus ziehen konnte.

Und dann: kurzes Aufatmen im Sommer. Für kurze Zeit ist Platz 1 der Nachrichten frei für das brennende Moria und die Flüchtlingskatstrophe von Lesbos. Dann aber tauchten die fernen Katastrophen wieder ab hinter den alltäglichen Zahlendiagrammen. Knapp 1,8 Millionen Tote sind es am Ende des Jahres. Und fast jeder davon wollte noch leben und lieben. Und nun liegt ein Jahr hinter uns, in dem unzählige Selbstverständlichkeiten zerronnen sind. Gewohntes ist in diesem Jahr  immer wieder umgepflügt worden. Der Satz: „Das gab es ja noch nie“ ist vom Abwehrsatz gegen Neues zur Alltagsbeschreibung geworden. Nein, ich kenne kein Jahr, das mir die Verletzlichkeit alles Irdischen so vor Augen gestellt hat, wie dieses Jahr.

Und nun sitzen wir hier wie die Israeliten bei Sukkot und Etam. Sind – wie sie damals – erst einmal entkommen den Plagen. Jetzt ist kleine Rast auf unserer Zeitenwanderung. Ein Innehalten zwischen dem, was war, und dem, was kommen wird. Was aber wird kommen? Worauf sollen wir warten? Worauf sollen wir hoffen fürs Kommende?

Die Israeliten damals hatten ein himmlisches Versprechen: Gottes Versprechen, mit ihnen zu ziehen am Tag und in der Nacht. Er wollte sie führen. Er wollte sie leiten. Wenn auch noch verborgen hinter Wolkensäulen und  versteckt in einer Feuersäule. Wir in St. Georgen müssen jetzt nicht nach einer Wolken- und Feuersäule Ausschau halten. Wir haben gerade Weihnachten gefeiert. Das Fest des un-verborgenen Gottes. In diesem Kind ist auch die Wahrheit über Gott aus jener Wolken- und Feuersäule herausgetreten. Jetzt gilt die alte Gottes-Zusage an die Israeliten neu: SIEHE ICH BIN BEI EUCH ALLE TAGE BIS AN DER WELT ENDE, spricht Christus. Das ist das himmlische Versprechen an uns. Was wir aber von diesem Versprechen halten, hat viel damit zu tun, welche Erfahrungen wir bisher mit Christus und seiner Botschaft gemacht haben. Unsere Gotteserwartung hat viel mit unserer Gotteserinnerung zu tun. Was wir von Christi Gegenwart im Kommenden erhoffen, hat viel damit zu tun, wie wir seine Gegenwart im Vergangenen erfahren haben. Schauen wir also noch einmal zurück auf das, was wir an Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr mitnehmen können als Glaubensgewissheiten fürs Kommende.

Eine erste Glaubensgewissheit: Was Ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan, spricht Christus (Mt 25,40).

Ich kenne persönlich auch kein Jahr, in dem so viel Hilfsbereitschaft, Solidarität, Achtsamkeit füreinander, auch Mitleiden und Mitfühlen war, wie in diesem. Und sei es auch nur der gefüllte Einkaufsbeutel an der Türklinke des Nachbarn. Mancherorts sind Menschen über sich hinausgewachsen, damit andere nicht fallen. Da war viel Liebe drin, und wo Liebe drin ist, war auch ER – das Herz allen Lebens.

Und eine zweite Glaubensgewissheit: Wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, so auch Christus. Und die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, sind doch die nötigsten, schrieb Paulus. (1. Kor 12).

Plötzlich waren sie alle systemrelevant, die Altenpfleger, Krankenpfleger, Kassiererinnen, Berufskraftfahrer, Hilfsarbeiter bei der Ernte…. Plötzlich hat man sie gesehen. Systemrelevant waren sie auch vorher, aber da hatte es kaum einer bemerkt. Nun müssen wir die alte Hierarchie von „angesehen und weniger angesehen Berufen“ nicht durch eine neue „Hierarchie der Systemrelevanz“ ersetzen. Aber hinter die Einsicht, dass ein jeder entscheidend ist für das Gelingen des Ganzen.

Hinter diese Einsicht sollten wir nicht mehr zurückfallen. Es ist kein kluger Wunsch, dass alles wieder so wird, wie es war. Vieles: Ja, manches: Nein. Prüfet alles, und das Gute behaltet (1. Thess 5.21).

Und eine dritte Glaubensgewißheit. „Gewöhne dich daran, in der Musik  Gott den Schöpfer zu erkennen und ihn zu loben. Selbst der Heilige Geist ehrt, die Musik als Werkzeug seiner eigentlichen Aufgabe“, hat Luther gesagt.

Ein paar Monate ging es gut, ohne Musik und ohne Poesie zu leben. Aber dann konnte man erleben, wie einer nach dem anderen nach dieser Himmelsgabe lechzte, wie der Hirsch nach frischem Wasser. Es war, als hätte man der Seele ihre Nahrung vorenthalten: die Lieder, den Chorgesang, das Streichquartett das Oratorium, auch das Theater….  Unsere Seele ernährt sich von Schönheit. Unser Herz braucht Poesie. Unser Leben braucht Gesang – nicht nur digital. Nein, neu war mir das nicht, und doch ist es mir erst in diesem Jahr als tiefe Erfahrung nahe gekommen. Das will ich nicht mehr vergessen!

Und schließlich eine vierte Glaubensgewißheit. Die Gewissheit des Kreuzes, dass Schmerz und Tränen und Tod keine gottlosen Zeiten sind. Es gab in diesem Jahr erbarmungswürdige Zeiten: schrecklicher Tod, einsamer Tod, Abschied im kleinsten Kreis. Und doch habe ich mittendrin auch das andere erlebt. Mitten im Schmerz war Tragendes. Mitten in den Tränen war auch Bergendes. Und es gab heilige Augenblicke mitten in der Fassungslosigkeit. Mitten im Vergehen der HERR. Auch das war 2020.

Ja, es gibt Gewißheiten der Liebe, die weder Motten, noch Rost, noch Corona fressen können. Und jeder lege jetzt seine eigenen Gewissheiten hinzu.

Es gibt Gewissheiten des Geistes und der Liebe und sie können uns Kompass und Segel, Anker und Ruder sein, gerade auch in Zeiten in denen uns irdische Gewißheiten zerbröseln. Wo Liebe drin ist, da ist ER bei uns  ---  ALLE TAGE BIS AN DER WELT ENDE.

 

Ist auch Dir zur Seite

still und unerkannt,

dass er treu dich leite

an der lieben Hand.

 

Wir sind in hoher Begleitung. Immanuel ist sein Name, übersetzt: Gott mit uns.

 

Nah ist

und schwer zu fassen

der Gott.

Wo aber Gefahr ist,

wächst

das Rettende auch.   (Hölderlin)

 

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag- auch im kommenden Jahr.