12.11.2014
Altbischof Dr. Werner Leich: Ansprache zum Friedensgebet am 3.11.2014

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. (2. Tim. 1, 7)

Liebe Gemeinde, oft deutet ein unscheinbares Wort einen großen Satz. In unserem Fall heißt das Wort „geben“. Das Gegenteil davon ist „nehmen“. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es Streit. Wurde die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes gegeben oder haben wir sie uns genommen? Sind Einheit und Freiheit vom 9. November 1989 Gottes Gabe oder eigenes Werk? Darauf will ich antworten. Aber zuvor schauen wir uns einen Bibeltext an. Er prägte viele Ansprachen vor und während der Friedlichen Revolution. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Eigenartig, der Apostel spricht zuerst von dem, was uns Gott nicht gegeben hat. Wir sollen erkennen, was keinesfalls von Gott kommen kann. In unserem Glauben überwiegt die Furcht Gottes. „Wir sollen Gott fürchten und lieben.“ Die griechische Sprache des Neuen Testaments kennt dagegen verschiedene Begriffe von „Furcht“. In unserem Text steht ein Wort, das uns auch bei der Stillung des Sturmes begegnet. In dem von Wellen bedrohten Boot sagt Jesus zu seinen Jüngern „Ihr Kleingläubigen, was seid ihr so furchtsam?“ Feige Verzagtheit ist der moderne Ausdruck für dieses Wort. Es bezeichnet den gebannten Blick ausschließlich auf die Gefahr. Er nimmt uns so gefangen, dass wir blind werden für jede Möglichkeit einer Hilfe. Lange Jahre starrten wir, liebe Brüder und Schwestern, auf die Gewalttaten, die Rechtlosigkeit, die Lügen, die brutalen Verhöre und die gefürchteten Gefängnisse in der DDR. Vor allem aber fürchteten wir einen dritten Weltkrieg. Hoch gerüstet mit atomaren Waffen standen sich Ost und West einsatzbereit gegenüber. Und wir lebten im gefährlichsten Bereich, an der Grenze, zwischen den Feinden. Aber dann, nach vielen Jahren, weitete sich der Blick. Viele unserer Gemeinden hielten Woche für Woche Friedensgebete. Sie trugen die Angst vor der atomaren Bedrohung, vor der Unterdrückung der Menschenrechte, vor der Zerstörung der Natur und vor der Schikane an den Ausreisewilligen vor das Angesicht Gottes. Gottes Allmacht und Güte rückte kraftvoll in das Blickfeld. Wie oft betete ich im Vesper-Gebet den Lobgesang der Maria: „ER stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Nichtigen“. Als reale Möglichkeit sah ich dies nicht. Das war meine feige Verzagtheit. Die kommt nicht von Gott. Wir denken noch einmal an die Stillung des Sturmes. Jesus schilt nicht nur die furchtsamen Kleingläubigen. Er zeigt auch die andere Möglichkeit: „und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille. Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: was ist das für ein Mann, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?“ Kraft, Liebe und Besonnenheit, das sind die Gaben Gottes. Besonnenheit sucht immer auch andere Möglichkeiten neben der Bedrohung. Fortan bestimmten diese drei großen Gaben die Friedensgebete und die anschließenden Demonstrationen auf der Straße. Kraft und Liebe: keine Gewalt, sondern Freundlichkeit gegenüber den Polizisten und Soldaten. Was sind das für Menschen, die auf Terror und Brutalität mit einer Kraft antworten, die aus der Liebe kommt? Die Staatsgewalt hatte ja alles geplant. Starke Armee-Einheiten standen in Alarmbereitschaft, Sanitätskommandos für blutige Straßenschlachten, Särge für die Toten. Am Ende mussten sich die Verantwortlichen sagen: „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ War die Friedliche Revolution Gabe Gottes oder Höchstleistung der Menschen? Welche Rollen kommen Gorbatschow und Altkanzler Kohl und Willy Brandt, welche Rolle der korrupten und völlig ausgebrannten Volkswirtschaft der DDR zu? Unsere Frage stellt kein echtes Entweder-Oder dar. Wird die Allmacht Gottes geleugnet, dann gibt es nur den Beifall für die mutigen Menschen. Wird der Allmacht Gottes vertraut, dann ist alles möglich. Gott kann direkt eingreifen oder Menschen lenken und durch sie Geschichte machen. Ich versuche, an die uneingeschränkte Allmacht des Vaters im Himmel und seines Sohnes Jesus Christus zu glauben. Die Friedliche Revolution ist für viele von euch und für mich Gabe Gottes und Erhörung vieler Gebete. Roger Schutz, der große Oekumeniker und Gründer von Taizé, schickte mir am 9. November ein Telegramm: „Gelobt sei der auferstandene Christus! Er hat unsere Gebete erhört.“ Damit ist alles gesagt. Heute bete ich darum, dass wir die Gabe Gottes nicht vergessen, dass wir uns nicht selber rühmen und die Vorherrschaft des Geldes nicht unser Leben bestimmen lassen. Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns dankbar bleiben für die Gaben Gottes und fest gegründet im Glauben an Jesus Christus. Amen