02.11.2012
Predigt von Bischof i.R. Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber, Berlin am 31. Oktober 2012

im Festsaal des Palas der Wartburg im Rahmen der Eisenacher Predigten zur Lutherdekade 2012

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn ich Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
(Galater 5, 1-6)

I.
Geplant habe ich das nicht. Die Einladung, am Reformationstag auf der Wartburg – dem Ort Martin Luthers wie der Elisabeth von Thüringen – zu predigen, war schon bewegend genug. Den Glauben, der durch die Liebe tätig ist, an dem Ort dieser beiden Vorbilder des Glaubens und der Liebe zu preisen – kann es eine überzeugendere Form geben, den Reformationstag zu feiern? Darüber habe ich mich gefreut – und auf den Predigttext nicht weiter geachtet. Martin Luthers „Danklied für die höchsten Wohltaten, so uns Gott in Christo erzeigt hat“ von Anfang bis Ende zu singen, begeisterte mich als Idee für einen Reformationsgottesdienst. „Nun freut euch, lieben Christen gmein“, werden wir singen – so dachte ich – ; und niemand wird danach die „Rechtfertigungslehre“ für abstrakt und unverständlich halten. An den Predigttext habe ich dabei nicht gedacht. Und nun kommt es ganz anders.

Nein, geplant habe ich das nicht: am Reformationstag 2012 eine Predigt über die Beschneidung. Das sucht sich keiner aus; das macht niemand freiwillig. Das Thema fällt uns vor die Füße. Der Abschnitt aus dem Galaterbrief, in dem Paulus von der Beschneidung spricht, ist nach der Ordnung unserer Kirche der Predigttext für den Reformationstag 2012, ob Ihnen oder mir das gefällt oder nicht.
Aber es kommt noch schlimmer: Nachdem wir vier Monate lang in einer teilweise erregten Debatte über die Freiheit von Juden und Muslimen zur Beschneidung diskutiert haben, konfrontiert der Galaterbrief des Paulus uns mit der Freiheit von der Beschneidung. Nachdem viele Christen sich auf die Seite von Juden und Muslimen gestellt und deren Recht auf den Ritus der Beschneidung verteidigt haben, schlägt heute das Pendel zurück: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen.

Starke Worte. Martin Luther sagt zu diesem Abschnitt sogar: „Erschreckende Worte“. Alle sechs Jahre wieder bilden diese Worte den Predigttext für den Reformationstag. Deshalb habe ich meine eigenen Predigten aus den zurückliegenden Jahren zu diesem Abschnitt nachgelesen. Auf die Beschneidung bin ich in all den Jahren als Bischof nie zu sprechen gekommen. Dabei steht sie doch so deutlich im Zentrum des Textes.

Ich dachte offenbar, mit diesem Thema könnten die Zuhörer ohnehin nichts anfangen. Es ist ja auch ein befremdliches Thema. Ich erinnere mich, wie lange ich als Kind brauchte, bis ich ahnte, was mit der Beschneidung überhaupt gemeint ist. Im Religionsunterricht wurde uns nie erklärt, wie dieser Ausdruck zu verstehen ist. Da dachte ich mir schon, es müsse etwas Peinliches sein. Wer mich aufgeklärt hat, weiß ich nicht mehr. Der Ausdruck „Entfernung der Penis-Vorhaut“ wäre uns nur schwer über die Lippen gekommen. Verborgen war uns erst recht der religiöse Sinn dieses Ritus. Da war es beruhigend zu lesen: In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Hier auf der Wartburg hat Martin Luther diese Sätze ins Deutsche übertragen. Hier hat er den hämmernden Klang der paulinischen Sätze in deutscher Sprache wiederholt. Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. In der Tat: Nicht die Freiheit zur Beschneidung, sondern die Freiheit von der Beschneidung ist das Thema.

II.
Man muss mit einer Feststellung beginnen, die auf manche schockierend wirken mag: Jesus war von der Beschneidung nicht frei. Die Weihnachtsgeschichte, die uns allen so vertraut im Ohr klingt, endet keineswegs, wie wir Jahr für Jahr hören, mit dem Satz: Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. Vielmehr folgt darauf noch der Satz: Und als acht Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus, wie er genannt war von dem Engel, ehe er im Mutterleib empfangen worden war.

Jesus musste beschnitten werden. Das ist das erste Muss, von dem wir in seinem Leben hören – lange bevor es dann von ihm heißt, dass er leiden musste. Er musste beschnitten werden; denn er wurde in eine jüdische Familie geboren und begann sein Leben dem jüdischen Ritus gemäß. Nach acht Tagen empfing er das Zeichen der Zugehörigkeit zu Gottes Bund und dazu einen Namen, der diesen Bund besonders bekräftigt: „Jeshua – der Herr hilft.“ Auch Jesu Jünger und seine Sympathisantinnen und seine Sympathisanten standen in dieser Tradition. Die Männer, die ihn umgaben, waren, davon können wir mit Sicherheit ausgehen, alle beschnitten.

Warum trennte sich das frühe Christentum von diesem Ritus? Martin Luther hat das in seiner Auslegung unseres Abschnitts in drastischer Kürze auf den Begriff gebracht: Beschnitten werden ist nicht böse, sondern die Gerechtigkeit in der Beschneidung suchen, das ist eine gottlose Sünde. Paulus, so fügt Luther hinzu, war der festen Überzeugung, dass die Juden seiner Zeit die Beschneidung deshalb praktizierten, weil sie in ihr ein Unterpfand der Gerechtigkeit, ein Unterpfand der Anerkennung vor Gott durch eigene Leistung sahen. Ich vollziehe einen Ritus und gehöre dadurch zu Gott. Ich erbringe eine Leistung – und bin deshalb vor Gott und der Welt anerkannt. Dafür stand in den Augen des Paulus die Beschneidung.

Deshalb trennte sich die frühe Christenheit vom Ritus der Beschneidung. Die Taufe trat an ihre Stelle. Diese Handlung soll uns zueignen, was wir nicht selbst, sondern was Christus für uns tut: Deshalb werden wir in seinen Tod getauft und haben in ihm an der Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten Anteil. Deshalb werden wir durch die Taufe befreit von dem, was uns von Gott trennt, und empfangen seine Gnade. Getaufte haben das Privileg, auf Gottes Güte und seine Vergebung zu vertrauen. Sie können für sich und andere beten und mit einer Antwort rechnen. Sie können verletzten und schwierigen Menschen mit Liebe und Achtung begegnen, ohne sie mit Besserungsprogrammen zu überfordern. Sie haben das Privileg, auf unmäßige Ansprüche an sich selbst und andere zu verzichten. Dies alles sind Früchte der Freiheit, die in unserer Lebensgeschichte mit der Taufe ihren Anfang nimmt. Beugt euch vor Gott, sonst vor niemandem auf dieser Welt! Es sei denn für andere. Kein Rückfall unter das alte Joch.

Der Rituswechsel hatte nicht nur einen tiefen religiösen Sinn; er hatte auch einen höchst praktischen Vorteil. Denn nun gründete die christliche Existenz in einem Sakrament, das für Männer und Frauen in gleicher Weise galt. Nun entsprach das christliche Leben – wenigstens in diesem Punkt – der Überzeugung, die Paulus an einer anderen Stelle des Galaterbriefs so ausdrückt: Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus ... Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Der Übergang auf einen Ritus, der für Frauen und Männer in gleicher Weise gilt, ist für die Identität der christlichen Kirche von ebenso großer Bedeutung wie die Erinnerung daran, dass der Glaube sich nicht auf unsere eigene Gerechtigkeit stützt, sondern aus der Gerechtigkeit lebt, die vor Gott gilt. Beides zusammen enthält genug Stoff für die Erneuerung einer „Kirche der Freiheit“, um die wir an jedem Reformationstag bitten: In einer Welt, in der das Selbstwertgefühl vieler Menschen sich ganz auf die eigene Leistung stützt, bezeugen wir, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht. Wir vertreten eine unantastbare Würde jedes Menschen, der nicht in ihm selbst begründet liegt, sondern ihm als Gottes Gabe zukommt, über alles eigene Verdienst hinaus. Und wir versuchen so zu leben, dass der Respekt vor dieser Würde zu spüren ist. Deshalb kommt es darauf an, dass diese Würde für jeden den gleichen Wert hat: für Arme und Reiche, Behinderte und Gesunde, Junge und Alte, Frauen und Männer. Diese Gleichheit soll sich auch in der Gestalt der Kirche spiegeln – beispielsweise im gleichen Zugang von Frauen und Männern zum Verkündigungsamt und zu den Leitungsaufgaben in der Kirche. Ist das zusammen nicht bereits ein ausreichendes Programm für den Beitrag, den die evangelische Kirche heute und morgen zur Gestalt der ökumenischen Christenheit beizutragen hat?

III.
Die Freiheit eines Christenmenschen, die Martin Luther vor fünfhundert Jahren in Wittenberg und auf der Wartburg neu entdeckte, ist nicht eine selbst erworbene, sondern eine geschenkte Freiheit. Deshalb schließt sie die Freiheit von der Beschneidung ein. Doch zur Freiheit eines Christenmenschen gehört der Dienst an der Freiheit des Nächsten. Die Beschneidung hat für den christlichen Glauben keine konstitutive Bedeutung mehr. Aber der christliche Glaube tritt für das Recht von Juden und Muslimen ein, die Beschneidung zu vollziehen.
Ob und inwieweit Juden und Muslime in der Beschneidung ein verpflichtendes Gebot sehen, haben sie selbst zu entscheiden. Wenn sie in ihr einen wichtigen Akt des Glaubensgehorsams sehen, verdient das unseren Respekt. Wenn sie den Ritus vollziehen wollen, weil in ihm die Verantwortung für die religiöse Beheimatung ihrer Kinder zum Ausdruck kommt, haben wir zu achten, dass sie sich für die religiöse Erziehung ihrer Kinder verantwortlich wissen. Statt dieses Recht in Zweifel zu ziehen, sollten wir uns eher selbst fragen, was wir für die religiöse Erziehung der jungen Generation tun. Natürlich muss gelten, dass Gesundheit und körperliche Integrität der Kinder geachtet und die Regeln der ärztlichen Kunst befolgt werden. Aber wer an diese Forderung erinnert, sollte zugleich das Recht auf Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht in Erinnerung behalten. Deshalb widerspricht es sich nicht, wenn wir uns als Christen an die Freiheit von der Beschneidung erinnern und doch für die Freiheit zur Beschneidung eintreten, die wir für Juden und Muslime in unserem Land bewahren wollen.

Denn es steht darin etwas auf dem Spiel, was für uns alle von größter Bedeutung ist: die Freiheit des Glaubens und der religiösen Betätigung selbst. Die Beschneidungsdebatte des Jahres 2012 hat zwei Themen zugleich. Die Achtung des Kindeswohls und der körperlichen Unversehrtheit von Kindern ist nur das eine dieser beiden Themen. Das andere ist von gleichem Gewicht: die Bedeutung der Religionsfreiheit für das persönliche Leben wie für den öffentlichen Raum. Viele äußern sich in diesem Jahr 2012 allerdings so, als verstünden sie gar nicht mehr, wovon die Rede ist. Religion ist ihnen so fremd geworden, dass ihnen die Freiheit der Religion gleichgültig geworden ist. Sie verstehen darunter allenfalls noch die Freiheit von der Religion, ihre Verbannung in einen Winkel, in dem sie niemanden stört. Viele nehmen Religion allenfalls noch in bedrückenden Zerrformen wahr: als Missbrauch von Jugendlichen, als Anstiftung zu fanatischer Gewalt, als Verbreitung abergläubischer Vorstellungen. Die Zerrformen für die Sache selbst zu nehmen, gilt als wirksames Mittel, den Glauben an den Rand zu drängen und Religion wirkungslos zu machen.

Dem begegnet man nicht, indem man vergangene Leistungen beschwört und die gute alte Zeit hochleben lässt. Man begegnet ihm nur, wenn der Glaube heute überzeugend gelebt und in die Zukunft getragen wird. Auch wenn wir auf der Wartburg den Reformationstag feiern, geschieht das nicht, weil die Reformation ins Museum gehört. Es geschieht, weil weiterwirkt, was hier begonnen hat.

Auch heute gleicht der Ruf des Evangeliums einem aufrüttelnden Fanfarenstoß. Wir brauchen uns nicht einzubilden, wir schulterten unser Leben aus eigner Kraft. Mensch atme auf! Du bist zur Freiheit berufen! Der gütige und barmherzige Gott sucht dich. Er möchte, dass du aufrecht deinen Weg gehst. Du wirst neue Formen der Knechtschaft als solche entlarven – die Abhängigkeit von Internet und Smartphone als Drogen unserer Zeit ebenso wie die Versklavung durch ein selbst gewähltes und verinnerlichtes Marktdiktat, das mit einer „freien“ Marktwirtschaft und erst recht mit deren sozialer Verankerung nichts mehr zu tun hat. Das Evangelium ist dein Kompass. Du gehörst zu den Kindern der Freiheit. Der Glaube, der in der Liebe tätig wird, ist deine Lebensform.

Deshalb ist jeder Tag ein kleiner Reformationstag. Tagtäglich geht es um die Bewahrung der in Gott verankerten Freiheit. Das Reformationsfest ist kein nostalgischer Blick in ein Museum auf der Wartburg oder anderswo. Es geht vielmehr um rettende Klarheit für heute und morgen. Jung und Alt verbindet die Frage, wie man unter den komplexen Anforderungen unserer Zeit eine eigenständige Person sein kann, die in Freiheit ihre Individualität entfaltet und dabei das Wohl anderer Menschen im Sinn behält. Das ist mehr als eine sofakissengestützte innere Freiheit, die sich bequem mit buckelnder Anpassung nach außen verbindet. Es ist die Bereitschaft zum aufrechten Gang, zum mutigen Widerspruch, zur Suche nach dem besten Weg. Dafür bietet jeder Tag Anlass. Deshalb ist jeder Tag ein kleiner Reformationstag.