11.10.2011
Predigt von Dr. Rainer Stahl am 9. Oktober 2011

in der Eisenacher Georgenkirche im Rahmen der "Eisenacher Predigten zur Lutherdekade"

16. Sonntag nach Trinitatis,
Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31.32

Liebe Schwestern und Brüder!

heute wird uns Großes aufgetragen. Der Bibeltext, der heute der Predigt zugrunde gelegt werden muss, ist einer der ganz besonderen Texte. Er konfrontiert uns mit wirklich tiefen Fragen unseres Glaubens.

Deshalb habe ich ihn Euch auf einem Blatt mitgebracht – und zwar zwei verschiedene Übersetzungen und zugleich verschiedene Ausschnitte.

Zuerst lesen wir den Text nach der Übersetzung durch Luthers Übersetzungskommission und nur mit den Versen, die in unserer Kirche als Predigttext vorgesehen sind:

22 ch Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23 sondern sie ist alle Morgen neu,
und deine Treue ist groß.
24 Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele;
darum will ich auf ihn hoffen.
25 t Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt,
und dem Menschen, der nach ihm fragt.
26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein
und auf die Hilfe des Herrn hoffen.

31 k Denn der Herr verstößt nicht ewig;
32 sondern er betrübt wohl
und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

In der hebräischen Gestalt ist dies eine Dichtung. Den Charakter als Dichtung bekommt es dadurch, dass immer drei Zeilen mit demselben Buchstaben des Alphabets beginnen. Unser Abschnitt umfasst zuerst die drei Zeilen, die mit dem Buchstaben „ch“ beginnen. Von zwei Buchstabenreihen sind aber nur je zwei Zeilen aufgenommen – von der Reihe mit „t“ und von der mit „k“. Mir scheint es sinnvoll, noch die Aussage direkt vor unserem Textabschnitt zu lesen und fehlende und weitere Verse hinzuzunehmen. Deshalb schauen wir uns alles nach einer modernen Übersetzung noch einmal an, die sehr nah am Hebräischen bleibt, nach der Zürcher Übersetzung aus dem Jahr 2007:

21 z Dies werde ich zurückbringen in mein Herz,
darum werde ich hoffen:
22 ch Es sind die Gnadenerweise des Herrn,
dass es nicht ganz und gar zu Ende ist mit uns,
denn sein Erbarmen hat sich nicht erschöpft.
23 An jedem Morgen ist es neu.
Deine Treue ist groß!
24 Mein Anteil ist der Herr!, habe ich gesagt.
Darum werde ich auf ihn hoffen.
25 t Der Herr ist gut zu dem, der auf ihn hofft,
zu dem, der nach ihm fragt.
26 Gut ist es, schweigend zu warten
auf die Rettung durch den Herrn.
27 Gut ist es für den Mann,
wenn er das Joch in seiner Jugend trägt.
28 j Allein soll er sitzen, und er soll schweigen,
wenn er es ihm auferlegt.
29 Er tue seinen Mund in den Staub,
vielleicht gibt es Hoffnung!
30 Er halte dem die Wange hin, der ihn schlägt,
der sich sättigt an der Schmach.
31 k Denn er verstößt nicht für immer,
der Herr.
32 Vielmehr: Hat er in Kummer gestürzt, dann erbarmt er sich,
wie es der großen Zahl seiner Gnadenerweise entspricht.
33 Denn nicht von Herzen hat er erniedrigt
und die Menschen in Kummer gestürzt.

Liebe Schwestern und Brüder, wie kommt es, dass wir einen so alten Bibeltext als etwas Faszinierendes wahrnehmen, das uns überfällt und beeindruckt? Drei Schritte will ich mit Euch gehen: Uns die unmittelbare Herausforderung deutlich machen, die er bedeutet, dann nach der Auslegungstradition fragen und schließlich nach der Intention der ursprünglichen Verfasser.

1) Zu aller erst ist es sicher seine ganz unmittelbare Kraft. Sind es seine Aussagen, die uns direkt ansprechen. Sind es Erinnerungen, die wir mit diesem Text verbinden, oder besser: die sich bei uns ganz plötzlich wieder einstellen. Als ich in der allerersten Annäherung an diesen Text in der lutherischen Übersetzung las und an Eisenach dachte, ist mir die Stunde der Trauerfeier für Altlandesbischof Moritz Mitzenheim im August 1977 wieder eingefallen. Landesbischof Ingo Braecklein hat damals in der Nikolaikirche diesen Text gepredigt:

22 ch Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
23 sondern sie ist alle Morgen neu,
und deine Treue ist groß.

Über dem Leben von Bruder Mitzenheim diese Sätze!
Eines Menschen, dem viele Vieles verdankten,
eines Menschen, an dem auch manche Vieles kritisiert haben.
Über diesem Leben hat er gepredigt: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind“.
Daraus lernen wir: Angesichts des Todes jedes Menschen sollen wir festhalten, dass es mit niemandem „ganz und gar zu Ende ist“, dass „wir nicht gar aus sind“, weil sich „Gottes Erbarmen nicht erschöpft“, weil Gottes „Treue groß ist“.

Das gilt ganz unmittelbar – und für jeden und jede! Für Euch. Für mich. Nicht wahr, wenn ich will, dass es für mich gilt, darf ich es dann für einen anderen ausschließen?

Dass sich Gottes Erbarmen nicht erschöpft, das ist doch der eigentliche Inhalt dessen, wessen Luther inne geworden war, was wir als Lutheranerinnen und Lutheraner uns gegenseitig immer wieder sagen, unterstreichen, deutlich machen – in ganz vielfältigen Worten und Formen. Heute gedenken wir voller Dankbarkeit, dass diese Kirche seit 450 Jahren eine evangelisch-lutherische Kirche ist. Wie kann ich dies in Worte fassen?

Ich will eine Hilfe nutzen: Im Dom zu Magdeburg gibt es eine Gedenktafel. Sie ist aus dem 17. Jahrhundert, aus dem Jahr 1667. Mit ihr wird das 100. Jubiläum der Einführung der Reformation im Dom erinnert, die Einführung im Jahr 1567. Ich darf die Formulierungen von dort auf unsere Georgenkirche übertragen:

„Am 16. Sonntag nach Trinitatis im Jahre des Herrn 1561 hat die Predigt des Heiligen Evangeliums und die Darreichung des Heiligen Sakraments des Altars nach der Einsetzung des Herrn Christus in dieser Stadtkirche angefangen.“

So könnten wir doch sagen! – 450 Jahre Dienst in dieser Weise! Das ist eine ganz große Sache! Sie ist wert, sie zu erinnern und festlich zu begehen!

Dabei erinnern wir uns aller Pfarrer und Pfarrerinnen, die so gepredigt und so das Heilige Abendmahl geleitet haben, die so predigen und so das Heilige Abendmahl leiten. Dazu kann ich wieder an Bruder Mitzenheim erinnern, der so ohne Frage Dienst getan hat. Ich möchte aber beispielhaft auch Landesoberpfarrer Wilhelm Reichardt nennen: Zur Eröffnung der Synode 1934 hat er auf der Wartburg gepredigt. Diese Predigt habe ich mir einmal genauer angesehen. Es war Verkündigung des Heiligen Evangeliums – nichts anderes, obwohl, oder gerade: weil, die Deutschen Christen so gewonnen hatten!

Und ich lade Euch alle ein, Euren Pfarrerinnen und Pfarrern heute dankbar zu sein, wenn sie das Heilige Evangelium predigen und das Heilige Sakrament des Altars nach der Einsetzung des Herrn Christus darreichen. Solchen Dank können sie gebrauchen!

2) Dann komme ich zum zweiten Grund, aus dem alte Texte zu uns reden, liebe Schwestern und Brüder: Das ist die Geschichte ihrer Verwendung. Das ist die Tradition, in der sie gelesen werden, in der auf sie gehört wird. Unser Text aus den Klageliedern kommt zu uns durch eine besondere Verwendungsgeschichte – und zwar bei unseren jüdischen Nachbarn. Das Buch der Klagelieder, das Buch „Wehe“ – wie es im Hebräischen heißt –, wird an einem Kalendertag in den Synagogen im Gottesdienst gelesen, an dem sowohl die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier, als auch die Eroberungen Jerusalems durch die Römer und die Leiden des jüdischen Volkes überhaupt gegenwärtig gehalten und vor Gott gebracht werden.

Auf dem Weg zur Kirche ist mir in der Georgenstraße der „Stolperstein“ zu Herrmann und Beate Sachs aufgefallen, deportiert 1942, ermordet in Belzec. Solches Leiden ist in den Worten aus den Klageliedern gegenwärtig. Das sei andeutend in unsere Mitte gestellt und ausgehalten!

Und dann auch unsere Leiden als Christen. Auch sie dürfen wir mit Hilfe dieser biblischen Worte vor Gott bringen.

Unser Text bietet dazu eine immense Aussage, die ich nicht erklären und eigentlich nicht auslegen kann. Eine Aussage, die ich aber aushalte. Und die ich deshalb als Angebot in unsere Mitte stelle.

Ich hoffe, dass Ihr diese Aussage wie ein Stück „eiserne Ration“ in Euern Lebensrucksack tut. Dort wird sie lange ungenutzt liegen. Aber für den Moment besonderen Glücks und den Moment erschreckenden Leids sei sie Euch ein Angebot. Nehmt sie dann aus dem Rucksack in die Hand, dreht sie herum und beißt dann doch hinein und gewinnt aus ihr Kraft:

37 m Wer sollte das sein, der sprach und es geschah,
ohne dass der Herr es geboten hätte? [– also positiv gewendet: Gott gebietet,
was andere sagen, dass es geschieht!]
38 Kommt nicht aus dem Mund des Höchsten
das Schlimme und das Gute?

Hoffentlich ist es immer viel Gutes. Hoffentlich nur wenig Schlimmes. Aber für beides kennen wir die Quelle!

Da verstehen wir nichts. Vielleicht auch nie. Aber wir können unser Leben aushalten. Denn wir glauben Gott – als seinen Urheber!

3) Und schließlich, liebe Schwestern und Brüder, der dritte Zugang zu der Frage, warum alte Bibeltexte uns ansprechen: Sie reden zu uns, weil wir erforschen können, was ihre Erstverfasser zum Ausdruck gebracht haben. Oft ist das sehr schwer.

Zu unserem Text ist es aber relativ einfach und gesichert: Fromme Menschen aus Juda, jüdische Theologen verarbeiten hier die Erlebnisse der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier. Menschen, die überlebt haben, schauen auf die Opfer und das Leiden. Dazu muss ich die drei Zeilen des Buchstaben „l“ lesen:

34 l Dass man unter seinen Füßen
alle Gefangenen des Landes zertritt,
35 dass man das Recht eines Mannes beugt
vor dem Angesicht des Höchsten,
36 dass man einen Menschen behindert bei seinem Rechtsstreit –
das sollte der Herr nicht sehen?

Hier wird eigentlich nichts erklärt. Aber eine ganz wichtige Einsicht wird ausgesprochen: Das Leid nimmt Gott doch wahr! Ihm ist es nicht verborgen! Für Gott ist es nicht unbekannt!

Mit dieser Einsicht beginnt die Glaubensverarbeitung. Jetzt ist alles in die richtigen Dimensionen eingeordnet: Nichts ist wirklich vor Gott verborgen.

An dieser Stelle ist mir Ihr Großvater, Bruder Köhler, Oberkirchenrat Ernst Köhler in Meiningen wieder eingefallen. Ich bin ja Meininger, und ich war als Junge vor Jahren bei ihm im Gottesdienst. Da hat er den Psalm 139 ausgelegt: „wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da, bettete ich mich bei den Toten, siehe so bist du auch da!“

Er hat damals von seinem Dienst als Gefangenenseelsorger im Zuchthaus Untermaßfeld erzählt. Solche Seelsorge war ja in der DDR-Zeit nicht einfach und nur wenigen möglich. Als besondere Problemlage hat er berichtet, dass die Gefangenen darunter leiden, dass die Wächter heimlich die Luke in der Tür öffnen können und dann die Gefangenen kontrollieren und beobachten.

So gerade ist dieser Glaubensgedanke von Gott nicht gemeint. Gott ist nicht der „big brother, watching us“ – um George Orwell’s „1984“ zu zitieren. Sondern anders herum: Gott ist derjenige, bei dem alles aufgehoben ist. Der alles erträgt. Der alles trägt – hin zu seiner Vollendung.

Nehmt diesen Gedanken mit nach Hause in diese neue Woche: Gott trägt Euer Leben mit seinen ganzen Aspekten – bis zur Vollendung.

Dein Leben und Dein Leben und mein Leben.

Wie in der Szene in „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak, in der die Hauptperson im Gottesdienst ist und dem Diakon zuhört, der die Seligpreisungen singt, und dabei spontan begreift: Ich bin ja gemeint. Mir wendet sich Gott zu. Ihr seid gemeint. Euch wendet sich Gott zu!
Amen.

Rainer Stahl, Erlangen, 9.10.2011

Dr. Rainer Stahl ist Generalsekretär des Martin-Luther-Bundes in Erlangen.