16.09.2011
Predigt von Professor Dr. Jürgen Henkys am 11. September 2011

in der Eisenacher Georgenkirche anlässlich der Jahrestagung der Internationalen Bonhoeffergesellschaft.

Jesaja 29. 17-24 (Neue Zürcher Bibel)

17 Nicht wahr? Nur noch eine kleine Weile, dann verwandelt sich der Libanon in einen Baumgarten, und der Karmel wird dem Wald gleich geachtet.

18 Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buches hören, und befreit von dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen.

19 Und die Armen werden sich wieder freuen über den HERRN, und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels.

20 Denn es ist aus mit dem Tyrannen, und der Schwätzer ist am Ende, und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind,

21 die in einer Rechtssache die Menschen zur Sünde verleiten und dem, der sie im Tor zurechtweist, eine Falle stellen und den Gerechten mit Nichtigem verdrängen.

22 Darum, so spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Haus Jakob: Nun wird Jakob nicht mehr zuschanden werden, und sein Angesicht wird nicht mehr erbleichen.

23 Denn wenn er seine Kinder, das Werk meiner Hände, in seiner Mitte sieht, wird man meinen Namen heilig halten, und man wird den Heiligen Jakobs heilig halten, und vor dem Gott Israels wird man sich fürchten.

24 Und die irren Geistes sind, werden erkennen, was Erkenntnis ist, und die Nörgler werden lernen, was Einsicht ist.

I.
„Nicht wahr? Nur noch eine kleine Weile…“
Das ist eine Zeitansage, liebe Gemeinde, die um Vertrauen wirbt.
Nicht mehr lange! Bald! Gleich!
So steht es hier, ziemlich genau in der Mitte unserer Bibel.
Und so geht es weiter, immer weiter, durch die Jahrhunderte hin,
bis zum letzten Blatt des Neuen Testaments.
Denn auch dort ist noch nicht ausgekostet, worauf wir warten dürfen.
Der letzte Dialog lautet: „Ja, ich komme bald“ – „Amen, ja – komm, Herr Jesus!“

Gottes Versprechen prägen uns ein:
„Du darfst hoffen – immer noch!“
Dagegen flüstern, lachen, schreien ganz andere Stimmen um uns herum und in uns:
„Du wirst betrogen – längst schon!“
So leben Christen im Zwiespalt zwischen
- Glaube und Vorbehalt,
- Treue und Verrat,
- Aufschwung und Absturz.
Umso nötiger, das alte Buch aufzuschlagen,
um dort zu lesen, zu übersetzen, neu zu verstehen:
- Vertrauen ist tiefer begründet als Argwohn,
- Zuversicht ist hilfreicher als Nörgelei,
- Glaube greift weiter als Berechnung.
Gott bleibt verlässlich.
Er selbst steht ein für alles, was er verspricht und will.

II.
Im Prophetenland liegt ein Gebirge am fernen Horizont: der Libanon,
und ein Bergrücken ganz in der Nähe: der Karmel.
Da greift der Gottesbote zu einem Bild üppiger, menschenfreundlicher Vegetation:
„Nicht wahr? Nur noch eine kleine Weile, dann verwandelt sich der Libanon in einen Baumgarten, und der Karmel wird dem Wald gleich geachtet.“
Es gab ja auch andere Stimmen, warnende, strafende:
„Der Libanon zuschanden geworden und verdorrt, der Karmel kahl.“ (33,9)
Aber hier: Keine Verödung!
Keine unumkehrbare Entwicklung zum Schlimmeren und Schlimmsten!
Sondern Wachstum, Blüte, Frucht in Fülle..
Die Tauben bleiben nicht taub, die Blinden nicht blind.
„Die Armen werden sich wieder freuen über den Herrn,
und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels.“

Das ist ein Versprechen für die hoffende Gemeinde: Keine Verkarstung!
Die Muttererde des Glaubens wird nicht länger weggeschwemmt.
Es geht doch nicht alles den Bach hinunter.
Menschen, die sich an Gott halten, sind keine Trockenpflanzen auf kahlem Hang.
Sie haben Wurzelboden und Nahrung:
das ausgelegte und lebendig gewordene Schriftwort
(wovon die Schwätzer und Propagandisten nichts wissen).
Sie gewinnen Gehör für die gute Nachricht heute.
Sie haben ein Auge für Unsichtbares, das erst noch Gestalt gewinnen will.
Sie fassen Entschlüsse gegen die Vereinzelung.
Sie sind froh, wenn sie zusammenkommen können.
Lauschend und schauend, singend und dankend freuen sie sich an Gott –
an dem „Heiligen Israels“.

Liebe Gemeinde, wenn in uns noch ein Rest Sehnsucht nach der ersten Liebe ist,
eine Erinnerung an frühe Flammen des Glaubens,
dann lasst uns doch bitte nicht mit Wehmut darauf zurückblicken.
Gottes Geist ist schon unterwegs, um das Feuer wieder anzublasen und die Liebe wieder aufzuwecken.
Die Freude am HErrn wird unsre Stärke sein.

III.
Aber was ist mit den schwarzen Tagen im Kalender?
Mit all den Unheilsdaten, die das Gedächtnis an die guten Stunden überlagern?
Von einem Tag will ich erzählen.
Es war heute vor zehn Jahren.
In der Berliner Friedrichstadtkirche wurde der 90. Geburtstag des Altbischofs Albrecht Schönherr begangen, eines wegweisenden Bonhoefferschülers.
Musik und Reden, viel Vergangenheit, dazu eine Ausstellung, alles festlich und schön.
Dann fuhren wir nach Hause und trafen uns bei Schönherrs im privaten Kreis.
Da sagte jemand: „Unbedingt den Fernseher einschalten!“
Der Schirm wurde hell, das Bild erschien:
Ein Flugzeug raste in einen der Zwillingstürme von Manhattan.
Und neue Bilder, dazu die alten in lähmender Wiederholung.
Im Kreis saß auch Barbara Green, die amerikanische Freundin,
die zum festlichen Tag extra über den Atlantik geflogen war.
Jemand stand auf und legte ihr schweigend den Arm um die Schulter.
Mehr war in diesen lähmenden Minuten nicht möglich.

Das war vor zehn Jahren.
Bruder Schönherr ist inzwischen gestorben.
Was vermag ein großer Geburtstag gegen den Tag eines unvorstellbaren Verbrechens?
Gar nichts.
Das eine Datum hat das andere verschluckt.
Und wie einen Kometenschweif zieht es andere Schreckensdaten hinter sich her,
zuletzt das Massaker in Oslo.
Was richten da noch Hoffnungstexte aus?
Ratlos stehen wir vor den unberechenbaren Schlägen und Schlingen des Bösen.

IV.
Im Vorausblick auf den diesjährigen 11. September hat die Hamburger „Zeit“ in den letzten Monaten je und dann ein aktuelles politisches Gedicht veröffentlicht.
Eines davon, geschrieben von Nora Bossong, hat die Überschrift „Unde malum“
So hatten früher einmal die christlichen Dogmatiker in ihren Lehrbüchern gefragt:
„Woher kommt das Böse?“
Hier ein Auszug aus dem Gedicht:
Ich muss Ihnen sagen, es kommt nicht, es ist.
[…] Es liegt drüben,
liegt mir zu Füßen, ist ich, ist ihr, bestellt Eiscreme,
gibt Trinkgeld. Es folgt uns oder verkehre ich hier
die Konstanten? […]
es […] umstellt uns, stellt uns um und um.
Drehen Sie sich um, verehrtes Publikum. Das Böse gibt es
nicht. Es gibt nur uns.

Eine schlimme Lektion: Ausgrenzung hilft nicht.
Von außen her lässt sich das Problem des Bösen nicht fassen,
noch weniger systematisch bekämpfen.
Zum Problem gehören wir selbst.
Wir sind es auch. Auch wir.

Da ist es mir bei unserem Predigtabschnitt wichtig geworden:
All die Bösewichte, die dort auftauchen,
Gewaltherrscher, Unheilstifter, Rechtsverdreher, Halsabschneider, Betrüger,
das sind ja nicht nur äußere Gegner des Volkes Israel.
Das sind nicht einfach nur Aggressoren oder Besatzer.
Die Grenzen verschwimmen.
Denn die Gerechten im Gottesvolk leiden vor allem unter ihren eigenen Leuten.
Es ist hier wie mit den Feinden in den Psalmen.
Sie sind da, selbst wo man keinen Feind erwarten sollte.
Was dann bleibt, ist Klage und Bitte – und Hinhören auf Gottes Versprechen:
„Es ist aus mit dem Tyrannen, und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind…“

Also keine offene Zukunft für Menschenfeinde!
Auch nicht für die raffinierten, versteckten,
die im Dunkeln operieren und dabei Rechtsmittel vortäuschen.
Gott bleibt Richter.
Gottes große Versprechen decken die Bosheit nicht zu.
Gottes Versprechen machen die unverschämte Nacktheit der Böswilligen erst offenbar.
Gottes Versprechen sind gut und stärken damit jeden Widerstand gegen eine blinde Welt,
die in ihr eigenes Verderben rennen will.

V.
Liebe Gemeinde, im Widerstand sind ja viele von uns erfahren:
Widerstand gegen nationalistische Volksverdummer;
Widerstand gegen Projekte, die mit Umweltzerstörungen einhergehen;
Widerstand gegen Armut, gegen Verschwendung, gegen Asylantenabschiebung.
Manches haben wir dabei erreicht, aber hat es auch den großen Durchbruch gegeben?
Ja, damals, bei der Überwindung von Mauer und Geheimdienstherrschaft – Gott sei Dank!
Aber über dem kleiner gewordenen Erdball ziehen immer neue Gewitter auf,
und ihr Wetterleuchten lässt gerade die Widerständler erschrecken.
Denn Widerstandsleute wissen besser als andere, was Ohnmacht ist.
Und wenn sie an Gott glauben, tragen sie ihre Ohnmacht – in Ergebung.
Nicht sie werden Sieger sein, sondern Einer, der ihnen mit seinem Kreuz vorangeht.
Und noch am letzten Abend Brot für sie bricht und den Becher herumreicht.

Brüder und Schwestern, unsere nächste Zukunft wird also keine Zeit ohne Bosheit sein.
Aber, wie Gott will und wenn wir einstimmen:
Es wird eine erfüllte Lern- und Lebenszeit zu Gottes Ehre sein!
In der Sprache der uralten Vorfahren im Glauben,
in der Sprache, die auch uns Nachgeborene, uns späte Miterben umschließt:
„Jakob wird nicht mehr zu Schanden werden, und sein Angesicht wird nicht mehr erbleichen. Denn – man wird meinen Namen heilig halten.“

Wie hat Jesus uns beten gelehrt? „Unser Vater, geheiligt werde Dein Name.“
Und das heißt:
„Du bist unter den vielen Göttern nicht irgendeiner.
Du mit deinem immer neu zu buchstabierenden heiligen Namen ‚Ich werde da sein’ –
du sorgst dich um all deine unverdient erwählten Töchter und Söhne und ihre ganze Welt.
Sei doch in unsrer Mitte so groß, dass wir nichts Großspuriges und Hohles mehr fürchten.
Sei uns doch so nah, dass wir dich mehr als alles Vorläufige fest halten und lieben.
Sei uns doch so klar, dass wir auch deinen Weg mit unserer gefährdeten Erde erkennen.
Du erlöst uns von dem Bösen.
Wir rufen dich an, wir bitten dich herzlich, wir freuen uns auf den Reich.“
Amen.