13.03.2011
Predigt von Landesbischöfin Ilse Junkermann am 12. März 2011

beim Tag der Gemeinschaften in der Nikolaikirche zu Eisenach

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Apostelgeschichte 6, 1-7: 1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Liebe Schwestern und Brüder,
schon bald hat er angefangen, dieser Streit. Kaum waren sie mehr geworden, schon ging es los. Wer sollte und konnte denn auch den Überblick behalten – wenn die Gemeinde so schnell wuchs?
Und dann: so viele Fremde waren dazu gekommen. Na ja, sie waren ja schon Juden – aber eben aus der Diaspora jetzt im Alter waren sie nach Jerusalem zurückgekommen, sprachen griechisch, klar, die Weltsprache. Gut, dass im neuen Glauben alle einen Platz finden können und in der Gemeinde. Aber anders sind sie doch. Wenn man nicht die gleiche Sprache spricht.... – wie soll da die Verständigung klappen? Gut, dass Sie heute Ihren 3er-Bund befestigen und feiern und damit sagen: uns verbindet mehr als uns trennt.
Und: in einer größeren Gemeinschaft muss man besonders aufeinander achten. Die Erfahrung der Urgemeinde war:
Offenbar waren die griechisch sprechenden Judenchristen und von ihnen v. a. die Witwen aus der Armenfürsorge des Tempels herausgefallen. Dorthin konnten sie nun nicht mehr gehen, wenn sie Not litten. Das war ja wohl auch nicht so schlimm – denn das zeichnete die neue Gemeinschaft, die Christusnachfolger ja aus, dass sie Gütergemeinschaft hatten, dass es eine tägliche Versorgung für alle gab.
Wirklich für alle?
Manche sind eben gleicher!, so würde sich das "große Murren", von dem die Apg berichtet, heute anhören. "Ist doch klar, sie sorgen v. a. für die, die sie kennen. Und unsere Ärmsten, unsere Witwen, die werden einfach übersehen."

Das Murren, liebe Festgemeinde, kommt in der Bibel schon einmal an in ganz ähnlichem Zusammenhang an wichtiger Stelle vor. Als die Israeliten in der Wüste nichts zu essen hatten. Auch hier hörte der Herr und gab abends Fleisch (Wachteln) und morgens Manna – als tägliches Brot.
Wer sich auf einen neuen Weg macht, der braucht auch ausreichend leibliche, materiell-leibliche Versorgung!

Wie wichtig also dieses Murren ist! Führt es doch zu einem wunderbaren Ergebnis auch in der Urgemeinde. Wir hören nach der Lösung des Konflikts als Folge: Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

Dass das Wort Gottes wächst und sich ausbreitet – dies hängt offensichtlich daran, dass ein Konflikt bearbeitet und geregelt wird, ja, dass er überhaupt laut wird. Hier geht es um einen Konflikt im materiellen Bereich.

Darin sind schon wichtige Hinweise auf Ihre Gemeinschaften und Ihre neue Gemeinschaft und auf unsere Gemeinschaft in der Kirche: nehmt mir das Murren ernst! Nehmt mir auch und v. a. das Murren ernst, das sich auf Ungleichheit im materiellen Bereich bezieht. Der Glaube braucht einen angemessenen Ausdruck auch im Bereich des Materiellen, auch im Bereich des Organisatorischen.
Und so verstehe ich als ein solch "kreatives Murren" heute die Frage danach: welchen Stellenwert soll der Diakonat in der EKM haben? Gut, dass Sie nun zusammengehen, gut, dass Sie heute sich den Fragen stellen: Wer sind wir?
Woher kommen wir? Was wollen wir?
Wenn Sie diese Fragen gemeinsam bearbeiten, wird es auch der gesamten Kirche leichter fallen, über den Diakonat in unserer Kirche nachzudenken – und ihn hoffentlich segensreich für unsere Kirche zu ordnen.
Also heute, das möchte ich als erstes festhalten: Lobt mir das Murren, wohl nicht schon das Murren einzelner Menschen, wohl aber: wenn Ihr mehrere gleich oder ähnlich murrende Stimmen hört, dann achtet darauf, ja, heißt es willkommen! Denn: hier ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten, hier braucht es eine neue Entwicklung, eine neue Regelung!

(2) Wie kommt nun die neue Regelung in der Urgemeinde zustande? Wie ging es bei Ihnen und bei den Verhandlungen für Ihr Zusammengehen zu? Ganz ähnlich?
Hören wir, was uns aus der Urgemeinde erzählt wird:
2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.

Als erstes: die 12 Apostel sehen ein, dass sie das nicht allein entscheiden können. Martin Luther nimmt diese Einberufung der Gemeindeversammlung als biblisches Zeugnis als Beleg dafür, "dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehrer zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen". In seiner Schrift mit diesem Titel führt er aus: "Ferner lesen wir doch Apg. 6, 2 ff., dass, bei einem sehr viel geringeren Amt (sc. als dem höchsten, nämlich dem Predigtamt) auch die Apostel sich nicht getrauten, Personen zu Diakonen einzusetzen ohne Wissen und Willen der Gemeinde, sondern die Gemeinde erwählte und berief die sieben Diakone und die Apostel bestätigen sie."
Es braucht für eine neue Regelung den Diskurs; es braucht die Überlegung der ganzen Gemeinde und nicht nur die der Ältesten oder Vorsteher. Vielmehr: das ist das zweite bei der Lösung des Konflikts, die Apostel geben es an die Betroffenen als Aufgabe: "Seht euch um". Heute sagen wir zu diesem Handlungsprinzip: "Betroffene zu Beteiligten machen". Seht Euch um und macht uns einen Vorschlag. Achtet dabei darauf: auch wer für die materielle Verteilung zuständig sein soll, auch der und die sollen geistliche Menschen sein und weise. Sie sollen also mehr sein als christliche Sozialarbeiter. Einer von ihnen, Stephanus, wird im nächsten Abschnitt bewusst beschrieben als ein Mann "voll Glauben und heiligen Geistes".
Das ist als zweites wichtig: für die Regelung der Verteilungsgerechtigkeit braucht es nicht nur organisatorische und kaufmännische Fähigkeiten. Auch da braucht es geistliche Prägung und Weisheit.

Und damit sind wir bei einem 3., das bei dieser Konfliktregelung auffällt: Es tut sich mit der Regelung sogleich ein neuer Konflikt auf. Denn:
Liebe Schwestern und Brüder,
hier spüren wir einer Diskussion nach, die von Anfang an die christliche Gemeinde und die Kirche begleitet: die Diskussion darüber, was höher einzuschätzen ist: der Wortdienst oder der Tischdienst? Die Verkündigung durch das Wort oder die Verkündigung durch die Tat?
Die Apostel distanzieren sich ja ausdrücklich vom "Tischdienst": "Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen" – deshalb sind sie dafür, nach anderen zu suchen, die für die materiell gerechte Versorgung sorgen. Und am Ende betonen sie noch einmal diese Schwerpunktsetzung für ihren Dienst: "Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben."
Schön und gut und recht haben sie! Keiner kann alles! Keiner soll alles!

Allerdings: Kann man das so trennen? Dass der Tischdienstler Stephanus ausdrücklich als "Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes" bezeichnet wird – das lässt uns indirekt wissen: über diese Arbeitsteilung, ja über diese tendenzielle Trennung von Wort und Tat gibt es seit Beginn Diskussionen – bis heute.
Leider hat auch Martin Luther die Höherschätzung des Wortdienstes mit einer Geringerschätzung des Tischdienstes verbunden. Wenn er in seiner schon genannten Schrift von 1523 die Armenfürsorge gegenüber dem Predigtamt als eines der "Unterämter" abqualifiziert, dann ist das eine Wertung, die sich bis heute durchzieht und das Miteinander der verschiedenen Dienste sehr beschwert. Denn uns ist ja heute und spätestens seit dem 19. Jahrhundert deutlich: das kann man nicht – Wort und Tat so gegeneinander ausspielen! Vielmehr ist uns klar: Alles Gute Tun kommt aus dem Lob Gottes. Im Evangelium, in Predigt und Liturgie höre ich von der Liebe Gottes, die mir ohne Leistung und ohne Voraussetzung zugesprochen wird. Und weil ich geliebt werde, liebe ich. Alles andere mündet bald in Selbst-Beweihräucherung. Und so kann es ebenso ein unerträgliches Protzen mit der guten Tat geben, dass die Diakonie auf Kosten der Verkündigung und des Gottesdienstes hoch gelobt wird – wie es umgekehrt zur Geringschätzung des "bloßen Tuns" kommen kann.

Leider ist dieses Gefälle zwischen den beiden Ämtern noch verstärkt in der Apostelgeschichte durch das
(4) Vierte, das in dieser Geschichte aus der Urgemeinde, vom Anfang, wichtig ist: die Berufung.
Die Berufung der ersten sieben Diakone geschieht dadurch, dass zwar die Gemeinde sie aussucht, aber die Apostel sie dann segnen.
Heißt das also, dass die die Diakone von den Aposteln abhängig sind? Wird hier zugleich eine klare Hierarchie miterzählt, wenn erzählt wird, dass die Apostel die Diakone segnen? Soll damit bekräftigt werden: "Die mit der Verkündigung Betrauten stehen über denjenigen, die sich um die am Rand stehenden und Vernachlässigten und materiell Bedürftigen kümmern?"
Oh, wie abgründig und zu Stolz verführbar ist der Mensch, auch der fromme Mensch und sein Herz!

Liebe Schwestern und Brüder,
Wir sehen heute, wie christliches und allzu Menschliches sich vermischen – damals und heute. Deshalb sollten wir angesichts der Wirkung dieser Geschichte auf die Kirche und ihre Ämter, uns heute ganz klar von dem distanzieren, was hier mitgelesen werden kann und könnte und lange wurde und wird: als gäbe es zwei grundsätzlich verschiedene Ämter und eines davon sei höher als das andere.

Wichtig ist vielmehr, was das eine Amt und alle verbindet: dass die Arbeit der Tischdienstler in der Urgemeinde unter dem Segen Gottes stand und steht und unter der Segensbitte der Gemeinde.
Deshalb bin ich sehr froh, dass Sie mich heute eingeladen haben. Und deshalb hoffe ich sehr, dass wir einen Text wie diesen in aller in Christus gebundenen Freiheit kritisch lesen; deshalb hoffe ich sehr, dass wir dieser Gefällegefahr gegenüber das Jesus-Wort kräftig laut hören und sagen: "wer unter Euch groß sein will, der sei euer Diener " (Mt 20,26)

Dies möge für Eure Gemeinschaft zu Dritt nun gelten. Und diese möge für unsere verschiedenen Dienste in dem einen Amt der Kirche gelten!

Denn dieser Segen mit Handauflegung weist uns auf das hin, was für uns alle gilt, egal, welchen Dienst wir innehaben und mit welchen Gaben und Fähigkeiten wir begabt und beschenkt sind: Der "Erfolg" für eine Kirche und in einer Kirche hängt ganz und ausschließlich vom Heiligen Geist ab. Alle Dienste in einer Kirche sind geistliche Dienste. Der Heilige Geist ist ein Geschenk, er ist zugesprochen, er bleibt unverfügbar. Er ermöglicht erst, dass unser Handeln – gleichermaßen in jedem Dienst – "erfolgreich" wird und kreativ bleibt. Ohne ihn kommen wir in Verfestigungen; ohne ihn versteigen wir uns in Hierarchien um ihrer selbst willen; ohne ihn kommen wir in eine Ämterdiskussion, die in Kirche und Gemeinde mehr auseinander dividiert als zusammenführt.
Lasst uns uns heute daran erinnern
Der Segen gilt ja der Sendung. Er gilt der Sendung, Kirche für andere zu sein. Und nicht Kirche zur eigenen Erbauung zu sein oder für den eigenen Status.
Und der Segen macht zugleich tröstlich deutlich: keiner muss, keine kann alles können. "Segen kann gedeihn, wo wir alles teilen" – das gilt ganz gewiss auch für die Arbeitsteilung, die uns hier erzählt wird. Und dies möge ganz gewiss gelten für Ihr Miteinander zu Dritt unter dem Dach der Diakonissenhaus-Stiftung.
Gebe uns Gott mit seinem Heiligen Geist, die Arbeitsteilung in unserer Kirche eine Arbeitsteilung auf Augenhöhe sein zu lassen in dem Einen Amt: Gott zu dienen, seinen Willen für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt geschehen zu lassen. Denn darum geht es: um Heil und Gerechtigkeit, um ein Auskommen für jeden Menschen, um die nötige leibliche und die nötige geistliche Versorgung für jeden Menschen.
So lasst uns gemeinsam daran festhalten, dass "Beten und Tun des Gerechten" untrennbar zusammengehören, damit das Wort Gottes sich ausbreitet und die Zahl der Jüngerinnen und Jünger zunimmt.
Gott schenke uns dafür seinen Geist jeden Tag neu: den Geist der Demut und der Liebe. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.