03.09.2023
Radikal lieben- Kirche zwischen Abbruch und Aufbruch

Vortrag von Landesbischof Heinrich Bedford- Strohm am 02.09. 2023 in der Eisenacher Nikolaikirche im Rahmen der Tagung der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft

Radikal lieben. Kirche zwischen Abbruch und Aufbruch. Vortrag bei der ibg am 2.9.23 in Eisenach[1]

Zur Situation der Kirche

Dass sich die ibg als Thema ihrer Tagung zum 50-jährigen Bestehen die Frage nach der Zukunft der Kirche gewählt hat, ist gut. Es hat sicher keine Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben, in der die Kirche öffentlich so in der Defensive war wie heute. Es hat aber vielleicht auch keine Zeit gegeben, in der die Verunsicherung innerhalb der Kirche so groß war wie heute, in der es deshalb einen so großen Orientierungsbedarf gegeben hat wie heute. „… und was, wenn keine Gemeinde mehr existiert?“ – so lautet der provokative Untertitel unseres Tagungsthemas. Und er steht für ein weitverbreitetes Gefühl.

Die Zeiten, in denen man vor einer Beschönigung der Lage zu warnen hatte, sind längst vorbei. Inzwischen stößt man angesichts einer medial verstärkten Fixierung auf die Mitgliedschaftszahlen und die zurückgehenden Finanzen auf eine zunehmende Mutlosigkeit, manchmal auch fast auf eine Verliebtheit in den Niedergang. Manche Zeitungsschlagzeile erweckt den Eindruck als seien die Kirchen in Deutschland kurz vor dem Aussterben. Und das, obwohl noch immer mehr als die Hälfte der Deutschen Mitglied einer der großen Kirchen sind, die orthodoxe Tradition eingerechnet. Wir werden aller Voraussicht nach auch in den nächsten Jahrzehnten weniger werden. Aber wir werden auch bei einer Halbierung immer noch sehr viele sein. Und das in einer Zeit, in der institutionelle Mitgliedschaften generell unter Druck geraten sind. Ich will gleich zu Beginn auf die Frage „… und was, wenn keine Gemeinde mehr existiert?“ antworten: Es wird eine Gemeinde geben! Und wir sollten die Zuversicht, die in dieser Aussage steckt, als Kirche auch ausstrahlen – allein schon aus missionarischen Gründen. Wer will sich denn einer Gemeinschaft anschließen, die sich selbst permanent niederredet?!

Die größte Herausforderung für die Kirche heute ist nicht eine institutionelle Verkleinerung. Die kann – und das erleben wir bereits jetzt – neben den unvermeidlichen und auch oft schmerzhaften Abbrüchen auch Aufbrüche erzeugen. Die größte Herausforderung für die Kirche ist es, angesichts der zahlreichen Vergeblichkeitserfahrungen neue mentale Stärke zu gewinnen. Die Voraussetzungen dafür – diese These will ich heute zu erläutern versuchen – sind gut, wenn wir unsere eigenen geistlichen Quellen neu entdecken und neu wahrnehmen, dass es Quellen der Fülle und nicht Quellen der Knappheit sind.

Schon die Deutung der empirischen Zahlen ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Wer die heutigen Kirchenaustrittszahlen einfach mit denen nach dem Krieg vergleicht und daraus einen kontinuierlichen Verfall ableitet, übersieht einen wichtigen, ja entscheidenden Aspekt: Unsere Gesellschaft ist seitdem durch grundlegende Veränderungen gegangen, die den Vergleich von Kirchenaustrittszahlen aus dem Jahr 1950 mit denen von heute als irreführend erkennbar machen. Nicht wenige Menschen waren damals aus Tradition oder Konvention Mitglied der Kirche. Ein Kirchenaustritt war für die meisten gar nicht vorstellbar. Sie blieben Kirchenmitglied nicht unbedingt aufgrund der Tiefe der Überzeugung, sondern wegen der zu befürchtenden unangenehmen Konsequenzen bei einem Kirchenaustritt. Wer ausgetreten wäre, hätte soziale Sanktionen riskiert. Nur wer aufgrund einer sehr bewussten kritischen Auseinandersetzung mit der Kirche eine Austrittsneigung entwickelte, vollzog diesen Schritt auch tatsächlich.

Inzwischen hat sich – nach vielen Jahrzehnten der „Individualisierung“ die Situation grundlegend gewandelt. Heute gehört es in manchen Kreisen der Gesellschaft schon fast zum guten Ton, aus der Kirche auszutreten. In einem solchen Umfeld ist nicht für den Austritt Bekennermut gefragt, sondern für das bewusste Ja zu Kirche. Für diejenigen, die aus reiner Konvention Mitglied der Kirche sind, gibt es heute keine Hürden mehr für einen Kirchenaustritt. Die Kirchenaustrittszahlen der letzten Jahre sind deswegen auch Ausdruck der Freiheit, bewusst wählen zu können, welcher Religionsgemeinschaft man angehören will und ob man überhaupt einer Religionsgemeinschaft angehören will. Wenn man sich diese gegenüber 1950 völlig andere Ausgangssituation klarmacht und neben den Individualisierungsschüben in Westdeutschland dazu noch die Konsequenzen des massiven Säkularisierungsschubs durch das DDR-Regime in Ostdeutschland miteinbezieht, dann ist die Tatsache, dass um die 40 Millionen Menschen in Deutschland aus freier Entscheidung einer der beiden großen Kirchen angehören, jedenfalls bemerkenswert.

Die Pluralisierung der letzten Jahrzehnte hat die job description der Kirche grundlegend verändert. Die Lebensstile der Menschen und - damit verbunden - ihre Erwartungen an die Kirche haben sich komplett ausdifferenziert. Man kann sich das am Beispiel Gottesdienst klarmachen. Während vor 70 Jahren klar war, wann und wohin man geht, wenn man einen Gottesdienst wollte, nämlich am Sonntag morgen in den klassischen Gottesdienst, hat sich die Lage hier komplett verändert. Für die Leute, die am Sonntag in die Berge wollen, muss man einen Samstag abend Gottesdienst anbieten. Am Sonntag morgen muss dann nach wie vor der klassische Gottesdienst angeboten werden. Da sind aber die Bruncher nicht zu finden, die einmal in der Woche – am Sonntag – ausschlafen und mit der Familie frühstücken wollen. Für die muss man um 11 Uhr einen Gottesdienst anderen Formats anbieten. Natürlich muss auch etwas für die Kinder angeboten werden. Ein Krabbelgottesdienst für die Kleinen, ein Minigottesdienst für die 3-6-jährigen du der klassische Kindergottesdienst für die Älteren. Wer Kirchensteuer zahlt, darf auch erwarten, dass er das passende Angebot gemacht bekommt. Dann hat man noch nichts für die Jugend gemacht – also muss es um 17 Uhr einen Jugendgottesdienst mit Band und Lightshow geben. Und um 18 Uhr eine Thomasmesse für Zweifler und – wenn Valentinstag ist - um 20 Uhr einen Gottesdienst für Verliebte.

Wer dieses Angebot zu machen versucht, wird schon am Sonntagmittag völlig erschöpft sein. Die einzige Möglichkeit ist intensive regionale Zusammenarbeit. Und selbst dann ist es für die Kirche sehr schwer, die Erwartungen zu erfüllen, die Menschen heute haben.

Das alles muss einbezogen werden, wenn wir heute über die Kirche in einer völlig veränderten Gesellschaft sprechen. Und genau das ist die Ausgangssituation für die intensiven Reformprozesse, die wir gegenwärtig überall in Deutschland haben.

Es gibt keinen Grund zur Mutlosigkeit im Hinblick auf eine kraftvolle Kirche der Zukunft. Aber es gibt Orientierungsbedarf. Denn die Wege, die die Kirche einschlagen kann, sind höchst unterschiedlich. Muss es heute darum gehen, dass die Kirche sich deutlicher gegen die Gesellschaft abgrenzt, ist gar so etwas wie eine Bekenntnissituation gegeben? Oder ist genau das Umgekehrte der Fall: muss die Kirche sich endlich „modernisieren“, den gesellschaftlichen Pluralismus ernst nehmen und anstatt steile Bekenntnisformeln von sich zu geben, endlich auf die Lebensrealität der Menschen heute einstellen, die mit solchen Formeln überhaupt nichts anfangen können, aber durchaus Religiositätsgefühle haben? Welche Orientierung kann das theologische Nachdenken im Hinblick auf diese Fragen geben?

Worüber – diese Frage ist zunächst zu klären – sprechen wir eigentlich, wenn wir über Kirche sprechen?

Empirische und geglaubte Kirche - Drei Kirchenmodelle

Wer theologisch über die Kirche nachdenkt, muss sich zunächst eine grundlegende Unterscheidung klarmachen: das Verhältnis von empirischer und geglaubter Kirche. Die empirische Kirche ist das, was wir erfahren: eine höchst fehlbare Gemeinschaft von Menschen, eine in vielem kritikwürdige Institution, ein Ort, an dem allzu häufig eine schmerzliche Lücke klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die geglaubte Kirche ist die Kirche, wie sie im Neuen Testament als die Gemeinschaft beschrieben wird, in der Christus weiterwirkt. Sie ist der „Leib Christi“ (1 Kor 12). Sie ist „Christus, als Gemeinde existierend“ (D. Bonhoeffer). Die theologische Tradition hat in diesem Zusammenhang immer von der "einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche" gesprochen - alle diese Attribute sind von einer tatsächlichen Gestaltwerdung in der Kirche, die wir jeden Tag erfahren, weit entfernt.

Es kommt aber nun alles darauf an, dass geglaubte und empirische Kirche zwar voneinander unterschieden, nicht aber voneinander getrennt werden. Die geglaubte Kirche muss immer Maßstab sein für die empirische Kirche. Deswegen ist die Rechenschaft über die Kirche, die wir glauben, auch so wichtig, denn nur dann können wir danach fragen, wie diese geglaubte Kirche unter den Bedingungen zeitlicher Existenz, in einer Welt, in der die Sünde weder in der Kirche noch in der Welt das Feld geräumt hat, wie die geglaubte Kirche also unter solchen Bedingungen soweit wie irgend möglich sichtbare Gestalt gewinnen kann.

Beide müssen als ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das kann indessen auf sehr unterschiedliche Weise geschehen.

2.1. Kirche als „Gesellschaftskirche“

Die erste Position umschreibe ich mit dem Titel "Gesellschaftskirche“

Diese Position will die Bedingungen der modernen Gesellschaft ernst nehmen und passt die Strategien und Verhaltensweisen der Kirche der Gesellschaft an. Der Pluralismus wird nicht als Problem, sondern als Chance gesehen. Im Mittelpunkt steht die als Errungenschaft der Neuzeit bejahte Freiheit des Einzelnen zur Wahl seiner jeweiligen Weltanschauung. Die Kirche muss sich so darstellen, dass sie auf dem Markt der Weltanschauungen möglichst wettbewerbsfähig wird. Das aber bedeutet, dass sie die Menschen nicht mit Wahrheitsansprüchen überfordert oder ihnen solche Wahrheitsansprüche überstülpt, sondern die jeweiligen Meinungen respektiert.

Wenn man sich als Vertreter der Kirche dann profiliert in der Öffentlichkeit äußert, wird man leicht dem Verdacht ausgesetzt, den Respekt für die unterschiedlichen Überzeugungen der Menschen vermissen zu lassen. Pluralismus – auch in der Kirche – wird zum Selbstzweck, anstatt zum Ort des Austausches von Positionen mit echten Wahrheitsansprüchen.

2.2. Kirche als Kontrastgesellschaft

Ganz anders die zweite Position. Nach dieser Position darf die Kirche gerade nicht in der pluralistischen Gesellschaft aufgehen, sondern sie muss ein Gegenüber zu dieser pluralistischen Gesellschaft bilden und dabei ganz bewusst einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Kirche wird als Kontrastgesellschaft gesehen, die ihre Identität als Kirche gerade in der Abgrenzung von der als sündig erfahrenen Welt gewinnt. Dieses Modell begegnet uns im Bereich der evangelikalen Gemeinschaften, die in der modernen pluralistischen Gesellschaft mit ihrer moralischen Freizügigkeit genau jenen fremden „Herrn“ sehen, dem gegenüber es, im Anklang an die Barmer Theologische Erklärung, Christus zu bekennen gilt. Von der Struktur her steckt dieses Modell aber auch in dem Ansatz, der genau von der anderen Seite her die Volkskirche kritisiert: den Gemeinschaften in der Kirche, die von dieser Kirche ein klares Bekenntnis gegen das existierende System – oft mit dem Kapitalismus identifiziert - verlangen und die Bindungen an die damit verbundenen Strukturen lösen wollen.

Obwohl die beiden Richtungen ja völlig gegensätzlich sind, ist die Grundstruktur aber die gleiche, dass die Kontrastgesellschaft der Ort ist, an dem gegenüber der existierenden Gesellschaft endlich die wahre Kirche deutlich werden soll und diese wahre Kirche sich gerade in der Abgrenzung gegenüber der Welt definiert.

3.3. Kirche als "öffentliche Kirche" in der pluralistischen Gesellschaft

Die "öffentliche Kirche" in der pluralistischen Gesellschaft“ passt sich weder einfach an den gesellschaftlichen Pluralismus an noch lehnt sie den modernen Pluralismus als solchen ab. Sie bejaht die Vielfalt, aber sie tritt auf der Basis biblisch begründeten christlichen Glaubens für ein klares Profil der Kirche in dieser Vielfalt ein und lebt es auch selbst. Klares öffentliches Reden der Kirche ist nicht unzulässige kirchliche Bevormundung, sondern konstruktiver Beitrag der Kirche zur öffentlichen Diskussion und damit Dienst an der Welt, wie er der Kirche von ihrem Herrn aufgetragen ist.

Die stärkste theologische Begründung findet diese Position aus meiner Sicht in den Gedanken, die Dietrich Bonhoeffer in seinen Ethikfragmenten zum Verständnis der Wirklichkeit entwickelt hat.

Ausgehend von 2. Kor 5 sieht Bonhoeffer die ganze Wirklichkeit in Christus versöhnt. „Die Wirklichkeit Gottes“ – so lautet der zu Recht oft zitierte Schlüsselsatz – „erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus“(DBW 6,40).

Bonhoeffer wendet sich gegen eine Auffassung, nach der im persönlichen Leben andere Gesetze gelten als im politischen Leben. Das Denken in zwei Räumen – so bekräftigt er - widerspricht zutiefst dem biblischen wie dem reformatorischen Denken und geht an der Wirklichkeit vorbei: „Es gibt nicht zwei Wirklichkeiten, sondern nur eine Wirklichkeit, und das ist die in Christus offenbar gewordene Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit“ (DBW 6, 43). Deswegen: „Es gibt kein Stück Welt und sei es noch so verloren, noch so gottlos, das nicht in Jesus Christus von Gott angenommen, mit Gott versöhnt wäre“ (DBW 6,52).

Die säkulare Welt aus dem Wirkungsbereich Christi heraus zu definieren, scheidet damit als Möglichkeit aus. Ebenso wenig Bestand haben können dualistische Sichtweisen gleich welcher Provenienz, die eine erwählte und erleuchtete Gruppe von Nachfolgenden einerseits und einer anderen unter der Macht der Sünde stehenden Gruppe andererseits gegenüberstellen.

Dass die in der Öffentlichkeit wirksamen Kräfte als Teil der in Christus versöhnten Welt gesehen werden, nimmt allerdings nichts weg von ihrem konfliktiven Charakter. Mit den Kategorien von Bonhoeffers Dissertation „Sanctorum Communio“ gesprochen: Ihr Versöhntsein ist realisiert, aber noch nicht aktualisiert. Die Aktualisierungen der Versöhnung in den gesellschaftlichen Konflikten zu erkennen und zu befördern, ist dann die Aufgabe, die in der Ziellinie einer öffentlichen Kirche in der pluralistischen Gesellschaft liegt.

Bei angewandter Ekklesiologie in diesem Sinne – so hat Joachim von Soosten in der Konklusion seiner Dissertation über Bonhoeffers Kirchenverständnis festgestellt - geht es „nicht um die Neutralisierung von Konflikten, sondern um die kommunikative Einlösung desjenigen Versprechens, das mit dem Versöhnungsgeschehen (sic!) des stellvertretenden Handelns Jesu Christi zur ureigensten Angelegenheit von Kirche geworden ist, und zu dessen verbindlicher Darstellung und Gestaltung sie unwiderruflich aufgefordert ist, will sie die Wahrheit der Versöhnung Gottes mit den Menschen in Christus nicht verdunkeln, sondern in ihrem Zeugnis in der Wirklichkeit der Welt zum Leuchten bringen.“[2]

Die Förderung sozialer Gerechtigkeit etwa und die damit verbundene Verbesserung der Situation der schwächsten Glieder kann als Aktualisierung der in Christus geschehenen Versöhnung verstanden werden, und zwar auch dann, wenn sie sich nicht explizit christlichen Bekenntnissen, sondern der Dynamik einer pluralistischen Öffentlichkeit verdankt.

Ich halte diese Position für die tragfähigste unter den dreien, weil sie biblisch begründete Identität mit Weltzugewandtheit verbindet, weil sie sich an den Problemen der heutigen Welt orientiert, ohne darin auf - oder gar unterzugehen, weil sie modern ist, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen.

Wollte man die oben beschriebenen Ansätze in den eingeführten Grundbegriffen ausdrücken, so müsste man sagen, dass in dem ersten Ansatz der Gesellschaftskirche die geglaubte Kirche ganz in der empirischen Kirche verschwindet und die empirische Kirche nun selbst nahezu normative Funktion bekommt. Jeder Hinweis auf die Glaubenswahrheit als normative Dimension erscheint dann nur noch als Dogmatismus.

Im Hinblick auf den zweiten Ansatz der Kirche als Kontrastgesellschaft müsste man sagen, dass die empirische Kirche ganz in der geglaubten Kirche verschwindet und dadurch die Gefahr entsteht, dass die empirische Wirklichkeit mit all ihrer Komplexität und Ambivalenz gar nicht richtig wahrgenommen wird.

Der dritte Ansatz versucht, genau das abzubilden, was wir als tragfähig gesehen haben: in der empirischen Kirche die geglaubte Kirche soweit wie irgend möglich sichtbare Gestalt gewinnen zu lassen.

Wenn ich darüber nachdenke, welche Worte die Bestimmung am besten ausdrücken, die der Kirche damit gegeben ist, stoße ich auf die berühmten Worte von Dietrich Bonhoeffer: „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit“

Beten, Tun des Gerechten, und Warten auf Gottes Zeit, Liebe ausstrahlen – die Bestimmung der Kirche

Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit - mit diesen drei Worten hat Dietrich Bonhoeffer die christliche Existenz beschrieben. Ich könnte – das habe ich bei meiner Eröffnungspredigt des Nürnberger Kirchentags so persönlich gesagt -ohne diese drei nicht leben. Das Beten gibt mir Kraft. Im Tun des Gerechten finde ich Sinn. Und aus dem Warten auf Gottes Zeit kommt meine Hoffnung. Ich weiß: Gottes Zeit wird kommen. „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ – sagt Jesus.

Nicole Hermannsdörfer hat in ihrer Dissertation über dieses Diktum herausgearbeitet, wie eng die drei Begriffe miteinander verbunden sind. Das Gebet ermöglicht eine Grundhaltung des aufmerksamen Lebens in der Gegenwart Gottes, das die einzelnen Teile des Alltags zu einem sinnvollen Ganzen verbindet. Es ist Ausdruck intensiv gesuchter Gottesliebe, die sich in der Nächstenliebe bewähren muss.[3]

Beten und Tun des Gerechten stehen dabei in einem zirkulären Verhältnis. Sie bewahren sich gegenseitig vor der Gefahr der Selbstsäkularisierung – also der Überbetonung des Tuns des Gerechten, dem Aufgehen in weltlichen Belangen -, auf der einen Seite, und der Selbstghettoisierung – also dem Rückzug in die Frömmigkeit der Kirche und ihre Stilisierung als Hort des Guten -, auf der anderen Seite.[4]

Damit „bleibt die Kirche nicht eine reine Kontrastgesellschaft, sondern stellt sich bewusst in den öffentlichen Diskurs pluraler Gesellschaften… Ihr Ziel ist es eine inspirierende Kraft für die ganze Gesellschaft zu entfalten, ohne sie dabei religiös zu bevormunden.“[5]

Denkt man die drei Begriffe so zusammen, dann wird die auch heute so verbreitete Trennung von Geistlichem und Politischem obsolet. Bei kaum einem Theologen wird das so deutlich wie bei Dietrich Bonhoeffer. Für Bonhoeffer – so hat Wolfgang Huber schon 1983 in einer Studie zu seinem Kirchenverständnis festgestellt – „gibt es verantwortliches Tun nicht ohne geistliche Erfahrung, politische Aktion nicht ohne Spiritualität, Identifikation im Handeln nicht ohne das Geschenk der Identität.“[6] In seinem 2019 veröffentlichten Theologischen Portrait Bonhoeffers hat Huber deswegen auch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem berühmten Wort Bonhoeffers von der „Kirche für andere“ aus den Gefängnisbriefen zum Ausdruck gebracht, es im Sinne von einer Kirche „mit“ anderen interpretiert und festgestellt: „Besser als in der Formel von der Kirche für andere ist das Kirchenverständnis der Gefängnisbriefe in der Aussage zusammengefasst, dass es auch künftig ‚Menschen geben‘ werde, ‚die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten‘“[7]

Ich füge den drei Begriffen Bonhoeffers noch einen Begriff explizit hinzu, der bei ihm im „Gerechten“ eingeschlossen ist. Es ist der Begriff der Liebe. Der Begriff der „Liebe“ ist schlechthin zentral für das Verständnis der Existenz Jesu und seines Lebens und Lehrens, und damit auch für die Existenz Gottes. „Gott ist die Liebe“ – diese Worte aus dem 1. Johannesbrief werden uns morgen beim Gottesdienst als in der Perikopenordnung vorgesehener Predigttext beschäftigen. Die Liebesenergie Gottes, wie sie in dem Menschen Jesus sichtbar geworden ist, ist es, die uns hineinzieht in das Kraftfeld des Reiches Gottes. Weil Gott Mensch geworden ist, kann der Weg der Christen nie aus der Welt herausführen. Er führt immer in die Welt und ihre Konflikte hinein. Radikale Christusliebe heißt immer radikale Liebe zur Welt, radikale Nächstenliebe.

Wenn wir also die Bestimmung der Kirche als Grundlage für ihre zukünftige Gestalt in veränderter Zeit in Worte fassen wollen, dann könnte diese Ergänzung hilfreich sein: Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit – und in allem: Liebe ausstrahlen.

Was bedeutet diese Zielbestimmung nun für die Praxis der Kirche?

Konsequenzen für die Kirche

Die praktischen Konsequenzen dieser Grundbestimmung der Kirche sind vielfältig. Und an vielen Stellen haben die Veränderungen auch längst begonnen, die notwendig sind, damit die Kirchen neue Kraft gewinnen. Ein Mentalitätswandel von der historisch analog zum preußischen Konsistorium in den Kirchen gewachsenen Amtsmentalität zu einer vom Geist der Liebe inspirierten Mentalität der Flexibilität gehört genauso dazu wie eine Entwicklung der bisherigen hierarchischen Ebenen hin zu einem Charakter als Netzwerk, eine gezielten Strategie zur Beteiligung junger Menschen an den Entscheidungen in der Kirche,  eine selbstverständlicheren Nutzung der neuen digitalen Formen der Kommunikation als integraler Bestandteil einer umfassenden Kommunikationsoffensive, eine Stärkung der Lebensnähe der theologischen Ausbildung bis hin zu einer viel stärkeren ökumenischen Zusammenarbeit in Religionsunterricht, Gottesdienst, und Seelsorge, aber auch so praktischen Dingen wie Gebäudenutzung.[8]

Drei Konsequenzen für das Handeln der Kirche will ich darüber hinaus hervorheben. Die erste nenne ich „Durch Sein in der Liebe missionarische Kraft entwickeln“.

4.1. Durch Sein in der Liebe missionarische Kraft entwickeln

Dass wir selbst die Liebe ausstrahlen, von der wir sprechen, ist die beste Grundlage dafür, dass Menschen sich für die Botschaft des Evangeliums begeistern lassen. Die Menschen müssen spüren, warum das eine wunderbare Botschaft ist, die wir da weitersagen. Sie sollen es nicht nur in unseren Worten hören, sondern auch in unserer Ausstrahlung spüren. Das ist natürlich etwas, was eine Kirchenleitung nicht in einem 10-Punkte Katalog verordnen kann. Sondern es passiert darin, dass wir uns immer wieder von einander inspirieren lassen. Von unserer Botschaft selbst inspirieren lassen und es wagen sie weiterzusagen. Nicht platt, nicht erdrückend, nicht gesetzlich, sondern einfach im Sein in der Liebe. Das aber heißt: Der Mensch muss Selbstzweck sein und nicht Objekt potentieller Bekehrung. Mission im Geiste Jesu heißt, den anderen um seiner selbst willen lieben, so wie Christus uns um unserer selbst willen liebt.

Von einem Beispiel möchte ich Ihnen erzählen. Die Aktion „Einfach heiraten“, die im vergangenen Jahr in verschiedenen Landeskirchen unter unterschiedlicher Namensgebung durchgeführt wurde, hat in Kirche und Öffentlichkeit ein erstaunliches Echo gefunden. Der Grundgedanke war, Menschen, die sich das wünschen ohne großen bürokratischen oder kirchenoffiziellen Vorlauf einen Segen anzubieten. Noch nie in meiner Bischofszeit hatte ich vorher ein vergleichbar positives Presseecho für eine kirchliche Aktion erlebt.

Die Aktion war mutig und hat im Vorfeld zu Kontroversen geführt. Man hatte Sorge, dass der Segen verschleudert wird, wenn die Kirche ohne lange Vorbereitung spontane Hochzeiten ermöglicht. Die kirchliche Trauung war bei dieser Aktion für die möglich, die schon standesamtlich verheiratet sind und die jetzt ohne großen Auftrieb und vielleicht dadurch umso tiefgehender den Segen Gottes für ihre Ehe erbitten wollten. Aber auch viele andere haben sich segnen lassen. Es ist deutlich geworden, wie wunderbar es ist, wenn Menschen einfach Gottes Segen für ihre Beziehung erbitten und sich dadurch stärken lassen.

Hier ist unsere Kirche als die Kirche sichtbar geworden, die sie von ihrem Wesen her ist: „Christus als Gemeinde existierend“. Eine Kirche, die die Liebe, die Offenheit und die Zugewandtheit Jesu, von der sie spricht, auch selbst ausstrahlt. Niemand unter denen, die gekommen sind, hat den Segen leichtfertig entgegengenommen. Wer sich Segen wünscht, drückt damit eine tiefe Sehnsucht aus. Eine Sehnsucht nach Annahme, eine Sehnsucht nach Stärkung, eine Sehnsucht nach Heil. Genau diese Sehnsucht wollen wir als Kirche stillen. Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche, die genau das ausstrahlt: Annahme, Stärkung, Heilung.

4.2. Die globale Ökumene stärken

Dass die Kirche nationale und kulturelle Grenzen übersteigt, gehört zu ihrem ureigenen Selbstverständnis. Es ist etwas ganz wunderbares, lokal fest verwurzelt zu sein aber diesen universalen Horizont haben. Weil Gott der Schöpfer der ganzen Welt ist, weil Jesus Christus der Herr aller Menschen ist. Und zwar von Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen.

Als Kirchen sind von unsrem Glauben her ideale Akteure einer weltweiten Zivilgesellschaft. Das ist auch für politische Fragen wie den Klimawandel relevant. Wenn in Tansania die Wetterextremitäten so groß sind und der Klimawandel hier schon so stark durchschlägt, dass die Felder dort verdorren und wenn klar ist, dass die Gründe dafür in unserem Lebensstil liegen und nicht von den Menschen dort selbst verursacht sind, dann hat das Konsequenzen für unser Handeln hier. Die Menschen, mit denen ich bei meinen Tansania-Besuchen spreche ich mit „liebe Schwestern und Brüder“ an. Wenn ich das ernst meine, muss ich ihre Situation auch hier in den öffentlichen Diskurs einbringen. Ich muss die Geschichten meiner Schwestern und Brüder auf der Welt an die Verhandlungstische der Mächtigen in unserem Land bringen. Ich kann mich nicht aus der Politik heraushalten, wenn ich meinen Glauben ernst nehme, wenn ich ernst nehme, dass die Menschen anderswo auf der Welt meine Schwestern und Brüder sind. Das ist der Zusammenhang zwischen Glaube und öffentlichem Engagement der Kirchen.

Die für die Welt insgesamt so wichtigen Themen Gerechtigkeit, Frieden und der Schutz der Natur sind alle miteinander Themen, die nicht national zu bewältigen sind, sondern international angegangen werden müssen. Es gibt – das wage ich zu behaupten – keine internationale Organisation, die so sehr dazu berufen ist, sich an der weltweiten zivilgesellschaftlichen Diskussion zu diesen Fragen zu beteiligen wie die Kirche. Dazu braucht sie aber Personen und Organe, die weltweit gehört werden. Deswegen muss man übrigens gerade heute sagen: Wenn es den Weltkirchenrat nicht schon 75 Jahre lang gäbe, müsste man ihn erfinden. Internationale ökumenische Netzwerkaktivitäten sind kein Hobby engagierter Ökumenikerinnen oder Ökumeniker. Sie gehören zum Kern kirchlichen Selbstverständnisses.

4.3. Die Kraft der Frömmigkeit für heutige Menschen erschließen 

Eine meiner aufregendsten Entdeckungen der letzten 15 Jahre war der enge inhaltliche Zusammenhang zwischen den biblischen Inhalten und den Ergebnissen der modernen Glücksforschung. Sie hat mir die Augen dafür geöffnet, dass die Kernpunkte der Bibel genau die Punkte sind, nach denen moderne Menschen von heute sich sehnen.[9] Es ist uns nur noch nicht gelungen, das wirklich sichtbar zu machen.

Ich nenne nur drei Beispiele:

Das erste Beispiel: Die meisten Menschen würden ein dankbares Leben als ein wesentliches Ziel für sich sehen.  Ich wüsste nicht, welche Grundorientierung mich dankbarer machen könnte, als der Glaube an den Gott, den wir als den Schöpfer der Welt bekennen. Der uns immer wieder von Neuem deutlich macht, dass wir uns nicht uns selbst verdanken, sondern dass wir alles, was wir haben, alles was wir sind, ein Geschenk Gottes ist, das wir jeden Tag aus der Hand Gottes entgegennehmen dürfen und „danke“ dafür sagen – etwa im täglichen Gebet.

Auch die Glücksratgeber empfehlen ein Leben in Dankbarkeit.  Aber wie macht man das? Wenn ich die entsprechende Seite im Glücksratgeber aufschlage und da steht: „Lernen Sie dankbar zu leben“, dann wird das erstmal nur meinen Kopf erreichen. Es muss aber in die Seele einsickern! Es braucht ein Sich-Einlassen auf eine Tradition, die mich lehrt, dankbar zu werden; die mich lehrt, über die Werke der Schöpfung zu staunen. Das ist es, was das alte Wort „Frömmigkeit“ bezeichnet. Das ist kein altmodisches Wort; ich glaube, es ist ein Zukunftswort. Wer Psalm 103 liest und verinnerlicht: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“, der lernt, dankbar zu sein. Das ist der Schlüssel zu einem wirklich erfüllten, zu einem glücklichen Leben.

Ein zweites Beispiel: Vergebungsbereitschaft sehen die Glücksforscher als wesentliche Voraussetzung für menschliches Glück. Ihr Ratschlag lautet deswegen: »Lernen Sie zu vergeben, das schwächt negative Emotionen.«

Ohne dabei das Ziel der »Schwächung negativer Emotionen« zu verfolgen, beten viele Hunderttausend Menschen in Deutschland und viele Hundert Millionen weltweit jeden Sonntag im Gottesdienst und weit darüber hinaus im Alltag jenen gewichtigen Satz im Vater Unser: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«. Es gibt wohl keine kraftvollere Form, die Erkenntnisse der Glücksforschung aufzunehmen und in den Alltag zu integrieren, als das regelmäßige ernsthafte Beten dieser Bitte.

Man muss sich nur einmal vorstellen, was wäre, wenn sich diese Einsicht ausbreiten würde. Wie würde sich unser Leben verändern, wie viele Ehen und Beziehungen würden noch bestehen, welch kraftvolle Erneuerung des gesellschaftlichen und auch des politischen Klimas würden wir erleben, wenn das ernsthafte Beten dieser Bitte der Normalfall wäre: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass es ein glücklicheres, ein erfüllteres Leben wäre. Was Jesus etwa in das Schalksknechtsgleichnis (Mt 18,23-34). kleidet, ist eine Erfahrung, die wir auch jenseits aller religiösen Kontexte machen können: Wer selbst die Kraft zur Vergebung aufbringt, darf auch auf die Vergebung der anderen hoffen, so wenig ein direkter Zusammenhang zwischen beidem herzustellen ist. Religiöse Quellen wie das Beten der Vergebungsbitte im Vater Unser können helfen, Vergebungsbereitschaft als Haltung zu entwickeln, die sich unabhängig von Reziprozitätserwartungen macht.

Ein drittes Beispiel: Woher kommt Zuversicht? »Seien Sie optimistisch und vermeiden Sie negatives Denken. Optimistisch zu sein, bedeutet voller Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Optimisten sind die besseren Realisten.« Das sagen die Glücksforscher.

So sehr die Gefahr besteht, dass ein solcher Rat im Sinne eines billigen Optimismus verstanden wird, so sehr ist die Zuversicht ein Grundsignum christlicher Existenz. Die Bibel erzählt die größte Hoffnungsgeschichte, die die Welt je gesehen hat. Sie erzählt von den Werken der Schöpfung, an deren Ende es heißt: Und siehe, es war sehr gut! Sie erzählt von einem Volk, das in der Sklaverei in Ägypten zugrunde zu gehen droht und dann erfahren darf, wie sein Gott es durch Mose aus der Sklaverei in die Freiheit führt. Sie erzählt von dem gleichen Volk, das vom rechten Weg abirrt und am Ende in der Gefangenschaft im Exil in Babylon landet und angesichts des Verlusts der Heimat in Verzweiflung zu versinken und an seinem Gott irre zu werden droht – und dann die Erfahrung macht, dass Gott der Schöpfer des Himmels und der Erden ist und sein Volk aus der Fremde nach Hause führt.

Und schließlich erzählt sie von jenem Jesus von Nazareth, der in Galiläa umherzieht und die Menschen fasziniert, weil er eine Liebe ausstrahlt, die sie noch nie erfahren haben und in der sie Gott selbst spüren. Und sie erzählt, wie sie dann die tiefste Enttäuschung erfahren, die man überhaupt nur erfahren kann, weil der Mann, in den sie so viele Hoffnungen gesetzt haben, verhaftet wird und jämmerlich als Folteropfer am Kreuz stirbt, mit einem Schrei der Verzweiflung auf den Lippen: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!?

Und dann begegnen die Frauen ihm am leeren Grab, viele andere begegnen ihm danach und merken: Er ist auferstanden. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Das Leben hat gesiegt. Und sie erzählen die Botschaft in alle Welt, durch viele Jahrhunderte hindurch bis heute, so dass Christinnen und Christen wissen, dass die Welt nicht auf ein dunkles Loch zuläuft, sondern auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der kein Leid, kein Schmerz, kein Geschrei mehr sein wird und in dem alle Tränen abgewischt sind. Mehr Hoffnung geht nicht!

Weil die Botschaft der Bibel die größte Hoffnungsgeschichte ist, die die Welt je gesehen hat, deswegen ist es so wichtig, dass wir diese Geschichte heute erzählen, erzählen in einer Welt, deren vielleicht knappste Ressource die Hoffnung ist.

5. Auf Christus vertrauen

Die Geschichte, die mich in diesen stürmischen Zeiten immer wieder am meisten trägt, ist die Geschichte von der Sturmstillung.

Ich denke dabei immer wieder an all diejenigen in unsere Kirchen, die haupt- oder ehrenamtlich viele Stunden investieren, um neue Ideen auszuprobieren, um interessante und zeitgemäße Angebote für die Menschen zu machen. Ich denke an alle Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich Mühe geben bei der Vorbereitung ihrer Predigt. Ich denke an alle, die sich in den Kirchengemeinden für andere engagieren und damit die Liebe ausstrahlen, für die Jesus selbst gestanden hat. Und ich denke daran, wie sie alle dann wieder die neuesten Kirchenaustrittszahlen in der Zeitung lesen und sich ein Gefühl der Vergeblichkeit breitzumachen droht. Man kann tun, was man will und der Trend geht trotzdem weiter.

Es ist, als ob Jesus schläft. Es ist, als ob der Herr der Kirche das alles geschehen lässt, ohne etwas zu tun. „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ – so rufen die Jünger in dem vom Sturm hin und her geworfenen Boot. Und so rufen wir heute in dem Schiff, das sich Gemeinde nennt und das durch den Sturm der Zeit fährt.

Deswegen ist es so wichtig, in der Seele zu verstehen, was passiert, als die Jünger so verzweifelt rufen. Es folgt dieser unglaubliche Moment: Jesus steht auf und bedroht den Wind und spricht zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legt sich, und es entsteht eine große Stille.

Genau das ist es, was wir heute am dringendsten brauchen: neben all unseren notwendigen Programmen zur Reform, in all unseren synodalen Beratungen, in all unserem wachen Reagieren auf die veränderte Wirklichkeit den Blick v.a. ganz neu auf Christus richten, auf ihn vertrauen und sein Wort hören: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Vielleicht brauchen wir genau das innere Vertrauen und die damit verbundene innere Gelassenheit, die überhaupt erst zum klugen und nachhaltigen Handeln befähigt.

Welche Kraft in der christlichen Hoffnung steckt, hat Dietrich Bonhoeffer einmal so zum Ausdruck gebracht: „Wenn schon die Illusion im Leben der Menschen eine so große Macht hat, daß sie das Leben in Gang hält, wie groß ist dann erst die Macht, die eine absolut begründete Hoffnung für das Leben hat, und wie unbesiegbar ist so ein Leben“ (DBW 8, 544).

Diese Hoffnung neu zu entdecken, hemmungslos und grenzenlos hoffen zu lernen, das ist vielleicht das Wichtigste, wenn wir heute die Grundlage für eine ausstrahlungsstarke Kirche der Zukunft legen wollen.

 

[1] Zu den Ideen dieses Vortrags ausführlicher: H. Bedford-Strohm, Radikal lieben. Anstöße für die Zukunft einer mutigen Kirche, Gütersloh 2017.

[2] J. von Soosten, Die Sozialität der Kirche. Theologie und Theorie der Kirche in Dietrich Bonhoeffers „Samctorum Communio, München 1992, 290.

[3] Nicole Hermannsdörfer, Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit. Gott und Welt in der Theologie Dietrich Bonhoeffers, Leipzig 2021, 254.

[4] A.a.O. 312.

[5] A.a.O. 313.

[6] W. Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1985, 200.

[7]. W. Huber, Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Portrait, München 2019, 86.

[8] Dazu näher H. Bedford-Strohm, Radikal lieben, Anstöße für die Zukunft einer mutigen Kirche, Gütersloh 2017.

[9] Dazu näher H. Bedford-Strohm, Frömmigkeit und Glück, München 2022.