23.09.2019
Predigt von Margot Käßmann im Rahmen der jüdisch-christlichen Begegnungstage

Sonntag, 22. September, 10.00 Uhr in der Georgenkirche Eisenach

Liebe Gemeinde,

bei einem Mittagessen in den USA fragte mich einmal ein Rabbiner: „Warum sollte ich mich eigentlich dafür interessieren, dass Sie einen von uns für Gottes Sohn halten?“ Ich war so verblüfft, dass ich mich bis heute daran erinnere. Was wäre Ihre Antwort gewesen? Überlegen Sie einen Augenblick. Warum sollten Juden sich für das Christentum interessieren?

Ich habe damals gesagt, es ist doch immer spannend, was so aus den kleinen Geschwistern wird, deren Geburt vielleicht gar nicht erwartet wurde. Außerdem ist es für den Frieden auf der Welt wichtig, dass es Frieden und Verständigung unter den Religionen gibt. Aber die Frage des Rabbiners ist berechtigt.

Viel leichter ist die Antwort auf die Frage: Warum sollten sich Christen für die jüdische Tradition interessieren? Jesus war Jude. Wie er sein tiefe Vertrauen in den Einen, in Gott gelebt hat, das ist für uns wichtig zu wissen, um sich ihm über all die Distanz hinweg anzunähern. Er lebte mit den Schriften und Ritualen seiner Tradition. Ihm ging es nicht um Abgrenzung vom Judentum. Der christliche Glaube versteht ihn als den Messias, den Retter, der in der hebräischen Bibel angekündigt wird. Wie also verhalten sich jüdische Tradition und christlicher Glaube zueinander? Diese Frage gab es schon in der allerersten Christenheit. Damals wurde diskutiert, ob ein Mensch erst Jude werden muss, um Teil der Christusbewegung zu werden. Ja sogar Jesus hatte anfangs seine Aufgabe darin gesehen, allein jüdische Menschen anzusprechen. Es war eine Frau, die ihm zur Lehrerin wird, als sie sagte, die Hunde würden ja auch die Brotkrumen essen, die unter den Tisch fallen. Deutlich wurde: Was Jesus von Gott erzählt, ist für alle Menschen bestimmt.

Mit den ersten Gemeinden weitab von Jerusalem entwickelte sich auf einmal aber ein anderer Gedanke: Sind die Juden nicht zu verachten, weil sie nicht erkennen, dass Jesus der Messias ist? Die sogenannten heidenchristlichen Gemeinden beginnen, sich abzusetzen, sich als besser oder erkenntnisreicher zu empfinden. Da mahnt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom: Vergesst nicht, wo ihr herkommt!

Er schreibt: „Wenn nun einige von den Zweigen geknickt wurden, du aber, der du ein wilder Ölzweig bist, in den Ölbaum eingepfropft wurdest und Anteil bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11, 17f.)

Das ist ein beeindruckendes Bild, finde ich, das wir auch rund 2000 Jahre später gut verstehen können. Einem soliden Baum wird ein wilder Zweig eingepfropft. Genau wie die organisch gewachsenen Zweige kann er sich nun aus der Wurzel des Baumes nähren. Aus der Wurzel des alten heraus entsteht etwas verändertes, etwas neues. Das heißt aber nicht, dass der solide ursprüngliche Ölbaum irgendwie nutzlos wird oder seine eigenen Zweige weniger wert sind. So ein Ölbaum hat einen starken knorrigen Stamm und solide, wenn auch flache Wurzeln. Darauf kommt es an. Nicht die Zweige tragen den Baum, sondern sie werden getragen von Wurzel und Stamm!  Beide Judentum und Christentum sind somit verwurzelt in der Treue Gottes zu seinem Volk.

Genau so kann ich auch das Verhältnis von Menschen jüdischen und christlichen Glaubens heute verstehen. Es gibt diese große, wunderbaren, Jahrtausende alte jüdische Tradition mit ihren großen Erzählungen, Ritualen und Geschichten. Und dann ist da vor zweitausend Jahren ein Mann, durch den ein Zugang zum einen Gott für Nicht-Juden vermittelt wird. Nein, Jesus wollte keine Kirche gründen, ganz gewiss nicht. Er wollte sich auch nicht absetzen von seiner eigenen Religionsgemeinschaft. Aber durch ihn wurde klar: Nicht nur Jüdinnen und Juden erkennen Gott, sondern auch andere können durch Jesus begreifen, wer Gott ist, wie Gott ist. Diese anderen sind die Heiden, und diese Heiden sind wir!

Der Apostel Paulus hat das, was Jesus gelebt hat, erläutert, interpretiert, erklärt. Er macht deutlich, dass die Botschaft von Gottes Liebe allen Menschen gilt. Du kannst dich ganz frei Gott zuwenden – und Gott hat sich dir längst schon zugewandt. Daran darfst du glauben, darauf darfst du vertrauen!

Christinnen und Christen sind deshalb so etwas wie die jüngeren Geschwister des Judentums. Jude bzw. Jüdin wirst du als Kind einer jüdischen Mutter, manchmal auch durch bewussten Übertritt zum jüdischen Glauben. Christ bzw. Christin wirst du durch die Taufe in der Tradition, in der der Jude Johannes den Juden Jesus getauft hat. Und schon da muss ich wieder sagen: Stopp! Der Rabbiner Walter Homolka hat mir gesagt: „Was heißt hier Taufe? Ihr nennt das so. Es war wahrscheinlich schlicht ein traditionelles jüdisches Reinigungsritual am Jordan.“ Und genau solche Gespräche finde ich spannend, weil wir voneinander lernen statt Scheu vor der Begegnung zu haben. Es ist erwiesen, dass Menschen offener sind für Gespräche mit anderem Glauben, wenn sie sich im eigenen Glauben beheimatet fühlen. Ja, wahrscheinlich war es ein jüdisches Reinigungsritual, das Johannes, den wir den Täufer nennen, mit Jesus praktiziert hat. Für uns als Christen wurde es zur Taufe, dem Ritus, mit dem wir Säuglinge oder auch Kinder und Erwachsene in unsere Gemeinschaft aufnehmen.

Also: Das Christentum wurzelt im Judentum, ist ein Zweig am Ölbaum der jüdischen Tradition, wird getragen von seiner jüdischen Wurzel, sagt Paulus. Wenn wir das so sehen, muss uns absolut empören, irritieren, dass es in Eisenach ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegeben hat. Diesen Einfluss zu beseitigen, hieße ja, den Stamm des Ölbaumes zu beseitigen, in den wir eingepflanzt sind als Christen, um im Bild des Paulus zu bleiben. Es hieße, die Wurzel zu kappen, von der wir doch leben, es wäre eine Selbstzerstörung!

Ich habe mir die Ausstellung zum so genannten „Entjudungsinstitut“ im Lutherhaus gestern angeschaut. Es ist schlicht nicht zu begreifen, dass evangelische Landeskirchen während der Zeit des Nationalsozialismus die irrwitzige Idee hatten, mit dieser Einrichtung aus der Bibel und dem Gesangbuch alle Verweise auf das Judentum zu streichen. Alle Bezüge zum hebräischen Teil der Bibel sollten getilgt werden. Das gerade in Eisenach zu tun, ist besonders absurd. Denn es war Martin Luther, der seiner hier auf der Wartburg mit der Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache mit dem griechischen Teil der Bibel, den wir Neues Testament nennen, begann. Und seine Übersetzung ist voller Verweise auf den hebräischen Teil, den wir Altes Testmaent nennen. „Wenn wir uns auf die ausdrücklichen Zitate und die direkten Anspielungen … beschränken, so stellen wir fest, dass 278 verschiedene Verse des Alten Testaments im Neuen Testament zitiert werden“[1]. Luther selbst aber sieht noch viel mehr Querverweise. Wenn Sie Zeit haben, schauen Sie mal allein im Römerbrief, wie viele Bezüge er herstellt. Luthers Antijudaismus, dem wir uns zum 500jährigen Reformationsjubiläum vor zwei Jahren endlich gestellt haben, speiste sich gerade daraus, dass Menschen jüdischen Glaubens die Verweise, die er in ihrer Heiligen Schrift auf Jesus Christus hin sah, so schlicht nicht sehen. Diese Verweise aber nun als lutherische Kirchen tilgen zu wollen, stand im Widerspruch zum lutherischen Erbe.

Akademischer Direktor des Instituts war der Neutestamentler Walter Grundmann. Das hat mich schockiert, als ich begriffen habe, dass auch ich seine Kommentare zu neutestamentlichen Büchern im Regal stehen habe. Grundmann durfte ab 1950 wieder als Pfarrer arbeiten, wurde Dozent für Bibel am Eisenacher Katechetenseminar und erhielt den Titel „Kirchenrat“. Seine Veröffentlichungen waren in Deutschland Ost und West hoch anerkannt. Das ist am Ende unfassbar. Unsere evangelische Kirche hat auch hier allzu lange gebraucht, die eigene Schuld zu sehen. Denn das ist deutlich: Das so genannte „Entjudungsinstitut“ der Deutschen Christen hat erheblich dazu beigetragen, den Judenhass zu schüren und die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten zu legitimieren. Wie schrieb Grundmann: „„Der Jude muß als feindlicher und schädlicher Fremder betrachtet werden und von jeder Einflußnahme ausgeschaltet werden.“[2] Dass ein evangelischer Theologe so etwas von sich gegeben hat, kann ich nicht begreifen.

Ich bin überzeugt, unsere evangelische Kirche hat aus ihrem Versagen in der Zeit des Natinalsozialismus gelernt. Und dafür bin ich dankbar. Auch das Festival hier in Eisenach an diesem Wochenende ist ein Zeichen dafür. Wie schön war es, am Freitag miteinander Shabbat zu feiern und auch Kidusch im großen Zelt. Und wie bereichernd ist es, dass heute hier im Gottesdienst ein Synagogalchor singt.

Aber wir können uns auch nicht beruhigt zurücklehnen! Wir haben es mit einem stetig wachsenden Antisemitismus zu tun mitten in unserem Land. Nur ein paar Beispiele:

  • Ende Juli wurde der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Yehuda Teichtal, in Begleitung seiner Kinder auf offener Straße beschimpft und bespuckt.
  • Anfang August wurde eine jüdische Familie in München von zwei Personen bespuckt und verbal attackiert.
  • Anfang September unterhielt sich in Berlin ein 21-jähriger Mann vor einer Diskothek mit drei gleichaltrigen Freunden auf Hebräisch. Daraufhin ging schlug ein anderer Mann ihm mit der Faust ins Gesicht und verletzte ihn erheblich.

Es wäre allzu einfach, zu sagen, der neue Antisemitismus sei in der Zuwanderung aus arabisch dominierten Ländern begründet. Ich fürchte, es gab ihn in Deutschland Ost und West latent auch nach 1945, auch nach aller Aufarbeitung der Shoah, auch nach allen Schuldbekenntnissen. Fest verankerte Vorurteile lösen sich nicht einfach auf.

Viele Juden fühlten sich Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland integriert. Sie hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, waren religiös säkularisiert oder gar zum Christentum übergetreten. Aber auf einmal wurde die Fremdzuschreibung von außen durch die Ideologie der Nationalsozialisten stärker als die selbst empfundene Zugehörigkeit. Sie wurden nicht zuallererst als Deutsche gesehen, sondern als Juden, weil andere definierten, was sie angeblich primär ausmachte.

Ich bin dankbar, dass viele Menschen in unserem Land heute hellwach sind und gegen Antisemitismus aufstehen. Und ich bin froh, dass wir in Theologie und Kirche begriffen haben, wir sind Geschwister im Glauben, die Seite an Seite stehen und nicht gegeneinander. Aber solange jüdische Einrichtungen durch die Polizei geschützt werden müssen, gibt es keine Normalität in unserem Land. Deutschland als ein Land der Vielfalt zu begreifen, darum geht es. Menschen glauben verschieden oder auch gar nicht. Das muss keine Angst machen, sondern ist eine Bereicherung. Diesen Lernprozess haben viele bereits durchschritten, sie freuen sich über die Unterschiedlichkeit. Aber das muss erst noch Allgemeingut werden.

Leider wird der Prozess der neuen Verständigung, Annäherung, Aussöhnung von Juden und Christen in diesen Tagen und Monaten massiv angegriffen. Ganz gezielt wird versucht, nationalsozialistisches Gedankengut wieder salonfähig werden zu lassen. In Thüringen, diesem wunderschönen, geschichtsträchtigen Bundesland wird nächsten Monat gewählt. Und der Spitzenkandidat der AfD ist ein Mensch, der Antisemitismus gezielt streut, etwa wenn er sagt: „Christentum und Judentum stellen einen Antagonismus dar. Darum kann ich mit dem Begriff des christlich-jüdischen Abendlands nichts anfangen.“[3] Warum sollten diese beiden Religionen einen Antagonismus darstellen? Alles, was in dieser Predigt gezeigt wurde, spricht vom Gegenteil! Und Herr Höcke sagte: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“[4] Ich möchte erwidern: Ja, und dafür können wir dankbar sein. Denn nur wenn die Opfer gehört werden und die Täter ihre Taten bekennen, wird Versöhnung möglich. Wir haben den Mut, als Christinnen und Christen, als Deutsche zu unserer Schuld zu stehen. Ich bin froh darüber, dass wir nicht wie andere Länder leugnen, was wir zu verantworten haben, sondern fähig sind, aus der Geschichte zu lernen. Gerade ein Geschichtslehrer sollte das doch wohl auch als Gewinn erkennen können.

Ich bin überzeugt, Religionen können viel zum Frieden beitragen, wenn sie begreifen: Wir haben je unsere Wahrheit über Gott gefunden. Andere finden eine andere Wahrheit über Gott. Miteinander darüber zu sprechen, ist spannend und hilft mir, meinen eigenen Glauben zu vertiefen.

In der Geschwisterforschung heißt es, je älter wir werden, desto wichtiger werden uns Geschwister, weil wir die Herkunft miteinander teilen. Das könnte auch für Religionen zutreffen. Wir müssen uns nicht abgrenzen, sondern wir können uns der wunderbaren gemeinsamen Wurzel erinnern. Wir können uns erzählen, was wir teilen und wo wir verschieden sind. Wir können staunen darüber, was so ein alter Ölbaum alles hervorbringt. Wir können voller Dankbarkeit staunen, dass nach all dem Hass, all der Gewalt und all dem Morden  neu jüdisches Leben wächst in unserem Land. Genau das feiern wir miteinander an diesem Wochenende in Eisenach. Ja, feiern dürfen wir auch! Amen.

 

[1] Roger Nicole, https://bibelbund.de/2015/07/der-neutestamentliche-gebrauch-des-alten-testaments.

[2] Walter Grundmann, Das religiöse Gesicht des Judentums – Entstehung und Art. Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, 1942, S. 161.

[3] Auf einer Veranstaltung der „Jungen Alternative Berlin“ am 26. September 2015 (https://www.focus.de/politik/deutschland/bjoern-hoecke-sieben-zitate-zeigen-wie-gefaehrlich-der-afd-rechtsaussen-wirklich-ist_id_6536746.html

[4] Dresden, 17. Januar 2017, über das Holocaust-Denkmal in Berlin, Beleg ebd.