05.10.2010
Predigt von Pfarrer i.R. Christian Führer am 3. Oktober 2010 in der Georgenkirche

zum Erntedankfest und zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit

über Psalm 75,2
 

Liebe Gemeinde!

Zwei Anlässe zum Danken kommen heute zusammen: Das Erntedankfest und der Dank für die friedliche Vereinigung der beiden Teile Deutschlands. Das eine Fest feiern Menschen schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Das andere erst seit 20 Jahren.
Doch tun sich die Menschen schwer mit dem Danken. Es gehört nicht zu den angeborenen Eigenschaften menschlichen Lebens. Ein Dank-Gen gibt es nicht. Pädagogische Bemühungen an dieser Stelle waren schon immer anstrengend und auch nicht immer erfolgreich.
Ein Kind bekommt von der freundlichen älteren Nachbarsfrau eine Tüte Gummibärchen. Es reißt sofort das Tütchen auf und steckt sich mehrere dieser beliebten Tierchen in den Mund. Die junge Mutter hat in sich noch eine Erinnerung und sagt: „Na, wie sagt man denn da?“ Und das Kind antwortet: “Schmeckt gut!“ War zwar nicht das, was die Mutter hören wollte. Aber stimmen tat’s trotzdem. Und außerdem braucht jeder Erwachsene nur an seine eigene Dankkultur zu denken und am Vorhandensein von Morgen-, Abend- und Tischgebet zu überprüfen.
Zudem leben wir ja in einer Zeit, in der das Nehmen, Kaufen, Genießen durch Werbung hemmungslos angefeuert wird.
Das hatte der DDR-Bürger schon im November/Dezember 1989 schnell begriffen. Da stand auf einer Litfasssäule der freien Meinungsäußerung der schicksalsschwere Satz: „Es gibt viel zu holen! Packen wir’s ein!“ Da muss gehandelt werden. Da bleibt nicht viel Zeit zum Denken und Danken...
Ja, auch wir Erwachsenen müssen immer wieder an das Danken erinnert, zum Danken angeregt, zum Denken und Danken ermutigt werden.
Darum muss es überall im Land Dank-Stellen geben (die Kirchen stehen dafür zahlreich zur Verfügung), in denen wir Gelegenheit haben: nicht zum Abwinken und Abdanken – das geschieht leider schon zu oft – sondern zum Aufblicken und Auf-Danken wie hier und heute:

„Wir danken DIR,GOTT, wir danken DIR
und verkündigen DEINE Wunder.“ (Ps. 75,2)

Wer die Zeit nach dem 2. Weltkrieg erlebt hat, weiß, dass es da nicht genug zu essen gab. Nicht, dass GOTT zu wenig hätte wachsen lassen. Sondern der von Menschen angezettelte Wahnsinn des Krieges hatte eine solche Zerstörung angerichtet, dass die Überlebenden nur schwer leben konnten.
Scharen von Menschen zogen aus den Trümmerstädten in Dörfer, die nicht zerstört waren, um Lebensmittel zu bekommen. „Hamstern“ hieß das, obwohl dieser Ausdruck falsch ist. Die Menschen wollten nur etwas zu essen für ihre Kinder und Familien. Silberbesteck, Porzellan, Teppiche wurden eingetauscht gegen Kartoffeln, Fett, Milch, ein Ei, ein Brot. Das Geld war nichts mehr wert. Was alle eigentlich wussten, wurde ihnen schmerzlich bewusst: Geld kann man nicht essen. Auch Silber, Porzellan und andere Wertgegenstände nicht, bis heute nicht. Die einzige Währung, die noch galt, war das, was GOTT wachsen ließ und gab!
Und wenn man dann ein Brot hatte: Wie langsam hat es die Familie gegessen, damit es länger reicht. Wie gut hat es gerochen und geschmeckt. Und wie dankbar waren die Menschen für das Brot, für das tägliche Brot! Das Erntedankfest bekam einen neuen Stellenwert durch die Kriegs- und Mangelerfahrung. Auch wenn es die Kinder und Enkel nervt: Sagt es weiter, wie es war!
Denken und Danken hängen zusammen. Wer nicht nachdenkt und innehält, der wird auch nicht danken. Und wer nicht dankbar ist, der hat auch keine Freude. Der stopft alles gedankenlos – sprich danklos – in sich hinein, bis ihm alles nur noch egal ist. Der Überfluss wird zum Überdruss.
Damit die Gegenwart nicht zum Zufall und die Zukunft nicht zum Ernstfall wird, sagen wir es öffentlich und frei heraus:
„Wir danken DIR, GOTT, wir danken DIR
und verkündigen DEINE Wunder.“

Ein Wunder GOTTES haben wir vor 21 Jahren erlebt: das Wunder einer Revolution ohne Blutvergießen, das Wunder einer friedlichen Revolution, die aus der Kirche kam, und die ein Jahr später, genau heute vor 20 Jahren, zur Vereinigung der beiden Teile Deutschlands führte.

Mit Revolutionen im allgemeinen und der Einheit im besonderen hatten wir nie Glück oder schon immer unsere Probleme. Die Revolutionen von 1848 und 1918 haben eine Blutspur hinterlassen und erreichten nicht die proklamierten Ziele. An anderen dringlichen Stellen haben sie erst gar nicht stattgefunden. Bezüglich des Willens zur Einheit kann J.W. von Goethe befragt werden, der feststellte: „Den Deutschen ist nichts daran gelegen, zusammen zu bleiben, aber doch, für sich zu bleiben. Jeder, sei er auch, welcher er wolle, hat so ein eigenes ‚Für sich’, das er sich nicht gern möchte nehmen lassen.“ Hat er auch dann noch recht, wenn er sagte: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun.“ Um, daran anschließend, zu fordern, dass sein „Reisekoffer durch alle 36 (deutschen) Staaten ungeöffnet passieren könne“ und sein Weimarischer Reisepass „nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Pass eines Ausländers“.
36 deutsche Kleinstaaten – da waren ja die zwei deutschen Staaten nach dem 2. Weltkrieg schon fast ein Glücksfall!
36 deutsche Kleinstaaten – und schließlich doch ein Deutsches Reich? Nicht auf parlamentarischem, auf Vernunft, Religion, Wissenschaft, Kunst, Moral oder irgendeinem Wert sich gründenden Weg, sondern durch Krieg zustande gekommen. Wobei sich vor Beginn des Krieges Bayern noch nicht eindeutig klar war, ob es mit Frankreich gegen Preußen oder mit Preußen gegen Frankreich kämpfen wollte. Letzteres geschah. Die Einheit kam. 1871 aus Krieg entstanden. 1945 durch Krieg vertan. Wobei schon Marx und Engels bemängelten, dass 1871 nur ein „Kleindeutschland“, d. h. ohne Österreich, herausgekommen sei. Später hatten wir ja dann dank eines österreichischen Kleinbürgers 12 Jahre lang ein „Großdeutschland“. Aber das war es ja auch nicht, was bleiben konnte. Der Fall war so furchtbar, wie verdient.
Zwei deutsche Staaten waren die Folge, BRD und DDR, eingebunden in die beiden Machtblöcke NATO und Warschauer Pakt, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Jeder Versuch einer Lockerung der Verhältnisse wurde im sozialistischen Machtbereich blutig niedergeschlagen: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in Prag, am 4. Juni 1989 in Peking.
Die innerdeutsche Grenze wurde mit Minen, Stacheldraht und Selbstschussanlagen gewissermaßen zur Hauptkampflinie des Kalten Krieges. Als mit dem Mauerbau 1961 in Berlin die letzte Lücke zubetoniert war, hatten die sozialistischen Planer der Ewigkeit die Teilung Deutschlands scheinbar endgültig zementiert.
Man muss sich das vor Augen halten, um zu würdigen, was dann geschah!

Es waren nicht unsere guten Chausseen und Eisenbahnen, die einen unvorhergesehenen und unerwarteten Prozess in Gang setzten!
Sondern ein winziges Senfkorn, dem GOTT die Kraft gab, die Mauer in den Köpfen und die in Berlin zu durchwachsen und zu überwinden: die Friedensgebete!
Die Friedensgebete für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung!
Sie waren das Rückgrat der Friedlichen Revolution, aus denen sich die Demonstrationen entwickelten.
Denn Beten und Handeln, Drinnen und Draußen, Altar und Straße gehören zusammen!

Und die großen Rahmenbedingungen stimmten:
KSZE-Schlussakte Helsinki, Solidarność in Polen, Charta 77 in der Tschechoslowakei, Gorbatschow in der Sowjetunion.

Am 9. Oktober 1989, diesem alles entscheidenden Tag in Leipzig, war die wunderbare Frucht jahrelanger, ununterbrochener Friedensgebete in der Nikolaikirche herangereift. Sie wurde im Verbund mit den anderen Innenstadtkirchen zum Ausgangspunkt der Demonstration der 70.000 und damit zum Kernpunkt der Friedlichen Revolution überhaupt.
Mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ war die Bergpredigt JESU auf den Nenner gebracht und wurde konsequent auf der Straße praktiziert.
Eine Friedliche Revolution nahm ihren Lauf. Wenn je etwas das Wort „Wunder“ verdient, dann das.
Ein Wunder biblischen Ausmaßes!

Die Folgen waren ebenso wunderbar:

  • Die friedliche Öffnung der Mauer vom Osten aus einen Monat später und
  • die friedliche Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands ein Jahr später.
  • Einheit Deutschlands dieses Mal ohne Krieg und Sieg und Demütigung anderer Völker!

Was hat GOTT da wachsen lassen aus diesem winzigen Senfkorn!
Das darf nicht verschwiegen oder zerjammert werden!
Das wollen wir voll Freude frei bekennen:
„Wir danken DIR; GOTT, wir danken DIR
und verkündigen DEINE Wunder!“

Darum haben wir zu diesem Erntedankfest – wahrscheinlich zum ersten Mal – zwischen den anderen, imposanten Erntegaben ein – Senfkorn auf dem Altar!
Es ist so klein – Sie werden’s kaum entdecken, wie man damals am Anfang auch die Friedensgebete kaum wahrgenommen hat.
Heute wollen wir dafür am meisten danken:

  • Dass GOTT etwas unter uns und vor unseren Augen hat wachsen lassen, was keiner wirklich für möglich gehalten hat.
  • Dass GOTT SEINE schützende Hand unterschiedslos über uns alle gehalten hat, drinnen und draußen.
  • Es geht durch unsere Köpfe, Herzen, Hände und Füße, kommt aber her von GOTT.

Am 3. Oktober 1990, als die Deutsche Einheit offiziell vollzogen wurde, war ich in Mainz beim ZDF eingeladen, genauer gesagt, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober. Schriftsteller, Künstler, Politiker, Historiker und ich als Pfarrer saßen dort zu einer Fernsehdiskussion zusammen. Dazu spielte der Sender immer wieder die Bilder aus Berlin ein und erbat von uns Kommentare dazu. Das Ganze ging bis nachts um zwei.
Am nächsten Morgen wachte ich gegen elf Uhr auf und schaltete im Hotelzimmer den Fernseher ein. Es war Sonntag, der 3. Oktober. Der Festakt aus dem Bundestag wurde gerade gesendet, dazu spielten sie die Bach-Kantate „Wir danken dir, Gott, wir danken dir“. (Kantate BWV 29) Dieser Moment rührte mich damals wirklich an. Das ist Deutschland, wie ich es noch nie erlebt habe, dachte ich. Ganz Deutschland, Volk und Regierung, hörte diese Worte in der wunderbaren Vertonung J. S. Bachs: „Wir danken dir, Gott, wir danken dir und verkündigen deine Wunder (...) Wo ist ein solches Volk wie wir, dem Gott so nah und gnädig ist.“
Dann erklang der gewaltige Schlusschoral:

„Sei Lob und Preis mit Ehren
Gott Vater, Sohn, Heiligem Geist.
Der wolle in uns mehren,
was Er aus Gnaden uns verheißt,
dass wir Ihm fest vertrauen,
gänzlich verlassn auf Ihn,
von Herzen auf Ihn bauen,
dass unsr Herz, Mut und Sinn
Ihm tröstlich solln anhangen;
drauf singen wir zur Stund:
Amen, wir werd’ns erlangen,
glaubn wir aus Herzensgrund.“

In jenem Augenblick dachte ich mit großer Bewegung: Allein dafür hat sich die Friedliche Revolution gelohnt!

Erntedankfest heute in einem großen, erweiterten Sinn.
Wir haben die Gnade GOTTES in einzigartiger Weise erfahren trotz allem, was das „Volk der Dichter und Denker“ an entsetzlichen Gräueln im vorigen Jahrhundert der Welt angetan hat, besonders dem Volk, aus dem JESUS geboren ist.
Lasst uns aus dieser Gnade leben:

  • Das Dankenswerte bedenken und nicht vergessen.
  • Auftretende und vorhandenen Ungerechtigkeit bekämpfen.

In der Gewissheit: „Die Gottesgnad alleine steht fest und bleibt in Ewigkeit.“

Wer wollte da mutlos werden?

Amen

Pfarrer em. C. Führer