24.08.2010
Predigt von Prälat Stephan Dorgerloh am 22. August in der Georgenkirche

im Rahmen des Lutherfestes 2010 über Apostelgeschichte 9, 1

Herr tue meine Lippen auf, dass mein Mund Deinen Ruhm verlündige. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen

Liebe Gemeinde, Liebe Lutherfestgemeinde

ich weiß nicht wie es ihnen geht, aber mich beschleicht bei Geschichten in denen sich Biographien über Nacht drehen, man könnte auch sagen bei Wendegeschichten oft ein komisches Gefühl. Wenn diese Geschichten mit großem Tam-tam und Inszenierungen daher kommen, ist die Skepsis noch größer. Bei Bekehrungsgeschichten, einer geistlichen Form von Wendeerzählungen, die Menschen laut tönend vor sich her tragen bin ich ähnlich zurückhaltend. Wollen sich Leute damit wichtigmachen oder in den Vordergrund spielen? Sind das Einbildungen oder ist es frommes Getue? Was daran kann wirklich Gottes Werk sein?

Die Bibel kennt viele solcher Geschichten von Männern und Frauen. Und scheinbar liebt Gott dabei das große Kino – man denke nur an Mose im Weidekörbchen und am brennenden Dornbusch oder den Hirtenjungen David, der noch schnell noch einen Goliath besiegt bevor er König wird.
Auch in der Bekehrungsgeschichte des Saulus, die wir als Epistel gehört haben, wird groß inszeniert. Der größte Verfolger der jungen Kirche wird zum eifrigsten Verfechter des neuen Glaubens und es ist alles dabei: eine Gotteserscheinung samt anschließender Blindheit, sein Rückzug mit Fasten und Beten und schließlich noch eine Heilungsgeschichte. Man kann Paulus zugutehalten, dass er nicht selber davon berichtet, sondern dass dieses Bekehrungswunder – so muss man es wohl bezeichnen, quasi wie eine Neugeburt am Beginn des Verkündigungshandeln des Paulus steht. Nicht er erzählt es von sich, sondern andere berichten über ihn. Scheinbar gibt es Zeugen des Ereignisses, die dies weitergetragen haben. Das machte die ganze Sache besser hörbar.

Nun hören wir das jetzt zum Sonntag und Lutherfest erneut und ich frage mich: Wie reagieren wir, wenn die Geschichte nicht 2000 Jahre sondern nur 20 Jahre alt ist? Sie könnte dann so klingen:
Stellen wir uns vor, dass vor 20 Jahren ein Mitarbeiter des MfS aus dem Beobachtungsbereich „kirchliche Opposition“ oder ein hoher Führungsoffizier mit einer Bekehrungsgeschichte in unsere Gemeinde aufkreuzt. Er ist vielen als Bösewicht und Verfolger nur zu gut bekannt. Was hätten wir da gedacht? Die meisten hätten wohl weniger eine göttliche Fügung vermutet als vielmehr ein Fähnlein im Winde oder einen opportunistischen Geist auf einem wendigen Hals.

In der Saulus-Paulus Geschichte gehören meine Sympathien zunächst ganz der zweiten Hauptgestalt, dem einfachen Gemeindeglied Hananias. Bemerkenswert ist, dass es ihn nicht zu verwundern scheint, dass Gott zu ihm spricht. Aber dass Gott ihn ausgerechnet zu Saulus sendet – mitten hinein in die Höhle des Löwen, des brutalen Christenverfolgers – wird ihm weiche Knie beschert haben.

Saulus ist bekannt dafür, dass er den Tod der verfolgten Christen vielleicht nicht aktiv herbei führt aber doch billigend in Kauf nimmt. Saulus tritt in der Apostelgeschichte das erste Mal im Zusammenhang mit der Steinigung des Stephanus auf. Wer weiß, wie viele Gemeindeglieder er auf dem Gewissen hat? Hananias muss damit rechnen, dass er der Nächste ist. Da hinein ruft Gott seinen Jünger Hananias. Doch der setzt dieser Berufung keinen Widerstand entgegen. Ungläubiges Nachfragen sei ihm gestattet. Aber Gottes Auftrag ist klar und so macht er sich auf den Weg.

Es wäre spannend in einen Dialog mit Hananias zu treten, was ihm auf dem Weg „zur geraden Straße“ durch den Kopf ging. Denn bei seiner Ankunft im Hause des Saulus begrüßt er ihn mit den Worten: „Bruder, Saulus“. Der Verfolger wird vom Verfolgten zum Bruder erklärt – was für ein Satz, was für eine Geste. Das ist mehr als die offene ausgestreckte Hand. Das ist eine Umarmung für den Todfeind. Eine Einladung zur Gemeinschaft.

Pinchas Lapid, der uns gelehrt hat die Geschichte Jesu mit jüdischen Augen und Ohren zu lesen und zu verstehen, hat die Feindesliebe übersetzt mit: Entfeinde Deine Feinde. Nimm hinweg, was die Feindschaft ausmacht. Das geschieht hier in der Anrede Bruder. Es ist so einfach gefordert und so schwer Alltagstauglich.

Machen wir es konkret, gehen wir zurück zum bekehrten oder gewendeten Stasimitarbeiter.

Ist das auch für uns vorstellbar, dass sich einer, der Christen in der DDR verfolgt hat, Gemeindemitgliedern schadete, ihnen nachspionierte oder sogar Oppositionelle und ihre Familien und Freundeskreise „zersetzte“; dass wir so einem eine Bekehrung und 180 Grad Wende bzw. Umkehr zutrauen? Und wenn wir es ihm zutrauen, billigen wir es auch? Und wenn wir es billigen, bringen wir es übers Herz und über die Lippen, ihn auch mit Bruder anzusprechen. Ein Gedanke, der mich tief Luft holen lässt.
Diese Fragen und dieses Szenario spielen mitten hinein in die ganze Debatte um Schuld und Vergebung. Im Land Brandenburg hat das seit der Regierungskoalition von SPD und Linke jüngst wieder lange Debatten erzeugt. Auch in der EKM ist darüber gerade erste wieder kräftig diskutiert worden – angestoßen von einer Predigt in dieser Kirche. Die Themen Stasi und Kirche, Opfer und Täter, Schuld und Vergebung in christlicher Perspektive sind ein heißes Pflaster.

Mit meinem provozierenden Beispiel habe ich in ein thematisches Wespennest gestochen. Dabei spielt die Schuldfrage in unserem Bekehrungsbericht gar keine Rolle. Weder Hananias und noch von anderen wird Paulus die Schuldfrage gestellt. Niemand sagt: „Du hast so viel Schuld auf Dich geladen, du darfst jetzt auf keinen Fall gleich neuen Glauben verkündigen oder gar von Jesus als dem Christus reden. Natürlich ist man erstaunt, ja ungläubig und traut seinen Ohren nicht. Aber es ist nicht überliefert dass man rummosert: „muss der sich jetzt so in die erste Reihe stellen?“ Die Schuldfrage kommt nicht vor.

In unseren Debatten dagegen scheint es die alles entscheidende Frage zu sein. Natürlich sollen wir fragen: Woran erkennt man, dass es eine echte Bekehrung ist und kein Wendehals-Manöver? Man kann das auch mit einer Gegenfrage beantworten: Ist es unsere Aufgabe das zu entscheiden? Natürlich kann man kritisch fragen ob es jemanden ernst ist. An Worten und Taten können wir uns ein Mitmenschliches Urteil bilden.

Eine meiner früheren Mitarbeiterinnen hat sich immer ein wenig über die neuen Gemeindeglieder mokiert, die erst nach 1990 den Weg in die Gemeinde fanden und in den nicht einfachen Zeiten der DDR angepasst in Massenorganisationen mit dem Strom geschwommen sind. Sie findet es noch heute ungerecht, dass sich einige Leute nun plötzlich aktiv in der Gemeinde einbringen oder Leute ihre Kinder taufen lassen, die doch früher Aktivisten im Kollektiv der sozialistischen Arbeit waren.

Dürfen wir uns einer Bekehrung in den Weg stellen? Ist es als Christenmensch – wie Luther sagen würde - unsere Aufgabe die Bekehrung zu Gott zu reglementieren oder eine biographische Neubesinnung, zu bewerten, zu erlauben oder gar zu beurteilen? Nun sollen wir gelassen Gott auch seine Arbeit tun lassen. Muss erst die Schulfrage abschließend geklärt sein bevor einer umkehren darf?

Am Lutherfest will ich ihnen abschließend eines meiner Lieblingsworte von Martin Luther nicht vorenthalten. Wenn man in Wittenberg zum Lutherhaus will – muss man durch das Vorderhaus hindurch. In dieser Toreinfahrt steht an den großen Deckenbalken: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat tun will.“

Das können nun nicht nur täglich die Vikare des dortigen Predigerseminars lesen, sondern auch die vielen tausend Touristen, die jährlich das Wohnhaus des Reformators besichtigen. Dieser Satz sagt nicht: mit jedem und jeder hat Gott eine große Tat vor. Es könnte aber sein dass sich Gott Werkzeuge erwählt, also Menschen beruft, die wir uns gar nicht vorstellen können oder von denen wir es nie vermuten.

Niemand lasse den Glauben daran fahren – also eine ganze volle Georgenkirche – sie alle müssen damit rechnen, dass vielleicht noch etwas passiert – mit ihnen selber oder aber mit ihrem Nachbarn in der Kirchenbank oder dem Nachbarn in der Stadt. Schauen sie sich nur um.
Gott macht Menschen zu seinen Werkzeugen. Das passiert zu ungewöhnlichen Zeiten mit unglaublichen Biographien und ist unserer Beurteilung doch ganz entzogen. So macht er Hananias zu seinem Werkzeug und er macht Saulus, der kurz davor steht seine kleine Jüngerschar vollends zu vernichten, zu seinem Werkzeug. Gott ruft Männer und Frauen in seinen Dienst. Das geschieht laut und leise, zu ungewöhnlichen Zeiten und gewöhnlichen Menschen und umgekehrt.
So ist die Bekehrungsgeschichte von Saulus zugleich eine Berufungsgeschichte.

Natürlich kann ich heute hier nicht von der Berufungsgeschichte des Paulus berichten ohne an eine Geschichte zu erinnern, die sich keine 50 km von Eisenach entfernt vor 505 Jahren ereignete. Im Gewitter von Stotternheim findet der Student der Jurisprudenz Martin Luder zu einer neuen Bestimmung; zu seiner Berufung. Der von Kommilitonen als lebenslustig beschriebe junge Luther vollzieht eine radikale Kehrtwende in seinem Leben. Er wird Augustinermönch. Er verzichtet auf eine Juristenkarriere, um den Quellen des Lebens und Glaubens auf den Grund zugehen. Der Rest der Geschichte darf an diesem Sonntag und in dieser Stadt als bekannt vorausgesetzt werden.

Gott hat sich seinen Knecht Martin Luther zum Werkzeug erwählt. Luther hat das Wort Beruf von der Berufung her verstanden und geprägt. Dahinter steht sein Verständnis vom täglichen Gottesdienst der Christenmenschen im Alltag der Welt, den die kleinen und großen Werkzeuge Gottes täglich zu verrichten haben. Berufung heißt Dienst. Nicht wenige haben es auch als große Last empfunden, denn der Berufung sollen Taten folgen. Daran wollen wir die imposanten wie die zweifelhaften, die großen und kleinen Bekehrungen erkennen.

So geht nun in diese Welt und sorgt dafür, dass „Niemand den Glauben daran fahren lasse, dass Gott an ihm (oder an ihr) eine große Tat tun will.“ Aber Vorsicht, das kann viel Arbeit bedeuten.

Der Friede Gottes, der höher ist alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.